Gottesopfer (epub)
als Siegfried Reuter vorgestellt hatte, deutete auf den letzten Raum im hinteren Teil der Wohnung. Die Tür stand offen und reflektierte das Blitzlicht einer Kamera direkt in den dunklen Korridor hinaus.
»Wer hat sie gefunden?«, stellte Sam die obligatorische Frage.
»Eine Bekannte des Opfers â die Tote heiÃt übrigens Birgit Eschberger â hat vergeblich versucht, sie zu erreichen. Sie war besorgt und holte sich vom Hausmeister die Schlüssel. Das Ãbliche eben. Na ja, den Rest können Sie sich denken. Nachdem sie die Polizei alarmiert hatte, kam kein einziges Wort mehr über ihre Lippen. Sie hat am ganzen Körper gezittert, sodass der Arzt ihr erst einmal eine Beruhigungsspritze gegeben hat.«
Sam sah sich suchend um. »Wo ist sie jetzt?«
»In der Wohnung des Hausmeisters.«
Sam steuerte auf den hinteren Teil der Wohnung zu, doch der bleiche Reuter hielt ihn zurück. »Sehen Sie sich erst einmal das hier an.«
Er ging voran, und Sam folgte seinem breiten Rücken, der fast den ganzen Türrahmen ausfüllte, in ein anderes Zimmer.
Das Erste, was er sah, war ein umgeworfener runder Eichentisch. Um einen Stuhl, der in der Mitte des Raumes stand, lagen abgeschnittene Haare. Ein Bild, das er bereits von den Fotos vom Tatort in Rom kannte. Sam bückte sich zu den Haaren hinunter. Reuter reichte ihm schnell einen dünnen OP-Handschuh, und Sam streifte ihn sich über. Er strich mit einem behandschuhten Finger durch die grauen Haare, und tatsächlich blitzte, wie er insgeheim gehofft hatte, hier und da eine weiÃe kristalline Substanz hervor. Winzige Krümelchen, aber auf dem dunklen Holzboden dennoch eindeutig erkennbar: Salz.
»Geben Sie mir mal eine Tüte.«
Reuter reichte ihm eine kleine Plastiktüte, und Sam füllte sie mit dem Salz und anderen undefinierbaren Partikelchen, die zwischen den Haaren lagen. Er drehte sich zu Reuter um, der hinter ihm stand und ihm über die Schulter linste.
»Fürs Labor. Ich hoffe, ich bekomme schnellstmöglich das Ergebnis. Was sind das da für Karten?« Sam zeigte auf die farbenfrohen Bilderkarten, die hinter dem umgekippten Tisch verstreut auf dem Boden lagen.
»Wohl so eine Art Tarotkarten.«
Sam scannte systematisch das Zimmer. Die Wände waren hellblau gestrichen, und wo er auch hinsah, sah er Keramikfiguren. Sie standen überall. Blumenkinder, sich küssende Pärchen, Frauen mit Kränzen oder Hüten auf dem Kopf, kleine Katzen und Dalmatiner. Plötzlich blieb sein Blick an einem Buch hängen, das auf einem zweitürigen, hüfthohen Holzschränkchen stand, direkt zwischen zwei der liebreizenden Figürchen. Ein dunkelblaues kleines Buch. Er ging darauf zu und nahm es in die Hand. Auf dem Buchdeckel war in goldenen Lettern »Die Bibel« eingestanzt. Sam schlug sie auf und fand auf der Innenseite einen Eintrag, der ihn stutzen lieÃ.
In diesem Moment tippte ihm der bleiche Reuter auf die Schulter. »Die Kollegen würden die Leiche demnächst gerne mitnehmen. Wenn Sie mir ins Bad folgen wollen?«
Obwohl Sam in seiner Laufbahn viele Tote gesehen hatte, verschluges ihm bei diesem Anblick zunächst einmal die Sprache. Die rechte Hand war an der linken groÃen Zehe und die linke an der rechten groÃen Zehe festgebunden. Die wulstigen Knie ragten grotesk aus dem rot gefärbten Wasser der vollen Badewanne.
»Der Körper liegt seit mindestens zehn Stunden in der Wanne. Das kann man an der Runzelung der Oberhaut erkennen«, sagte Reuter und hielt sich die Hand vor Nase und Mund, um den einsetzenden Leichengeruch und den Gestank von Erbrochenem nicht einzuatmen. Ein Polizeibeamter hatte seinen Mageninhalt ins Waschbecken geleert.
»Danke, aber ich brauche keine Einführung in die Gesetze der Leichenverwesung, Herr Kollege. Wo ist der Kopf?«, fragte Sam.
»Eine gute Frage, den haben wir bisher noch nicht gefunden.«
»Na prima. Gibt es ein Foto von der Frau mit Kopf?«
»Im Schlafzimmer steht eines, ich werde es für Sie kopieren.«
Sam beugte sich über die Leiche. Die massigen Unterschenkel der Frau waren blaulila verfärbt und etwas deformiert.
»Was ist mit den Beinen passiert?«
»Ganz genau können wir das erst nach der Autopsie sagen, aber Sie haben recht, sie sehen komisch aus.« Siegfried Reuters Augen flogen von der Leiche zur Tür. Er war bemüht, nicht allzu lange den
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