Gotteszahl
schrie er und fasste sich an den Mund.
Das Blut floss, und Andrea Solli zog eine Packung Papiertaschentücher aus ihrer voluminösen Handtasche.
Martin schnappte sich drei und presste sie auf die Wunde. »Hawre und ich waren nicht zusammen«, sagte er aufgeregt und verriet plötzlich, dass er den Stimmbruch noch nicht ganz überwunden hatte.
»Wir waren nur Freunde!«
»Freunde wissen eigentlich so ungefähr, wo der andere sich aufhält«, sagte Silje.
Der Junge gab keine Antwort. Seine Augen waren feucht, aber Silje wusste nicht, ob es an der Wendung lag, die das Gespräch genommen hatte, oder an der schmerzenden Lippe. Sie überlegte, wie sie weitermachen sollte. Um Zeit zu gewinnen, öffnete sie eine Anderthalbliterflasche Mineralwasser und füllte drei Gläser, ohne die anderen zu fragen, ob sie etwas trinken wollten.
»Hawre ist tot«, sagte sie leise.
Die Elstern hoben gleichzeitig von der Fensterbank ab, schrien heiser und verschwanden in der Dunkelheit über der Stadt.
Endlich schneite es nicht mehr. Es war Viertel nach vier nachmittags. Vom Gang her hörten sie Schritte von Leuten, die es eilig hatten, nach Hause zu kommen.
»Ich hab’s ja geahnt«, flüsterte Martin.
Er ließ das blutige Papiertuch auf den Boden fallen, dann legte er die Arme auf den Tisch und verbarg sein Gesicht. »Ich hab es ja geahnt«, sagte er noch einmal und schluchzte auf.
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen, Martin?« Silje Sørensen hätte am liebsten den Arm um ihn gelegt. Ihn an sich gezogen. Ihn getröstet, als gäbe es eine Möglichkeit, einen Jungen von fast sechzehn zu trösten, der schon längst alle Möglichkeiten für ein anständiges Leben verloren hatte.
»Wann hast du ihn zuletzt gesehen?«, fragte sie noch einmal.
»Ich weiß nicht«, weinte er.
»Es ist sehr wichtig, Martin. Hawre ist nämlich ermordet worden.«
Das Schluchzen brach ab. »Ermordet?«
Seine Stimme klang halb erstickt.
»Ja, und deshalb ist es ungeheuer wichtig, dass du versuchst, dich zu erinnern.«
»Glaubst du, ich hab Hawre umgebracht?«
Er war nicht einmal wütend. Nicht vorwurfsvoll. Martin Setre nahm es einfach als gegeben hin, dass alle ihn in jedem Punkt für schuldig hielten.
»Nein, überhaupt nicht. Ich glaube ganz und gar nicht, dass du deinen Freund umgebracht hast.«
»Schön«, schniefte er und hob langsam den Kopf.
Andrea Solli zeigte auf die Kleenexpackung. Er reagierte nicht.
»Denn das hätte ich doch nie getan!«
»Kannst du versuchen, dich zu erinnern, wann du ihn zuletzt gesehen hast? Wir können mit dem 21. November anfangen. Da seid ihr zusammen festgenommen worden. Es war ein Freitag. Kannst du dich an irgendetwas erinnern?«
Er nickte fast unmerklich.
»Du bist damals vom Jugendamt abgeholt und zu deren Notaufnahme gefahren worden, steht hier. Hawre dagegen konnte beim Transport entkommen. Hast du ihn danach noch mal gesehen?«
»Ja …«
Er schien wirklich zu überlegen. Eine schräge Furche teilte seine Nasenwurzel. »Ich bin am nächsten Tag abgehauen. Und getroffen hab ich ihn am … am Sonntag. Und am … «
Zum ersten Mal griff er nach dem Glas mit dem Mineralwasser. »Kann ich auch Cola kriegen?«, murmelte er.
»Sicher. Hier.«
Sie reichte ihm eine Flasche. Er öffnete sie und trank, ohne sich ein Glas zu nehmen. Er verzog schmerzlich das Gesicht, als die Flasche die noch immer blutende Wunde berührte.
»Wir haben uns an dem Sonntag getroffen. Da bin ich ganz sicher, weil …«
Plötzlich verstummte er.
»Weil was?«, fragte Silje Sørensen.
»Sag ich nicht.«
»Du musst doch einsehen, dass …«
»Ich sag nichts über diesen Abend, okay? Der spielt aber auch keine Rolle. Denn Hawre und ich haben uns auch am nächsten Tag wiedergesehen.«
»Na gut«, sagte Silje und tastete sich zum Kalender ihres Mobiltelefons durch. »Das wäre dann … Montag, der 24. November?«
»Keine Ahnung, was für ein Datum das war, aber es war der Montag, nachdem sie uns eingebuchtet hatten. Wir wollten …«
Endlich griff er zu einem Kleenextuch und hob es vorsichtig an den Mund. Noch immer hingen Tränen an seinen Wimpern. Er weinte nicht mehr, aber seine ganze Gestalt wirkte womöglich noch jämmerlicher als zuvor.
»Wir wollten nur zwei Touren machen. Und dann ins Kino gehen. Wir brauchten Geld.«
Silje Sørensen hatte Papier und Stift vor sich liegen. Aber sie hatte bisher noch keine einzige Notiz gemacht. Jetzt griff sie vorsichtig zum Kugelschreiber, berührte das Papier aber
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