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Gottspieler

Gottspieler

Titel: Gottspieler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Cook
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Cassis Gesichtszüge waren sanft und schmal und die Augen an den äußeren Winkeln leicht nach oben gezogen, so daß sie ihr einen etwas exotischen Anflug verliehen. Sie benutzte kaum Make-up und wirkte daher jünger als ihre achtundzwanzig Jahre. Ihre Kleidung war stets sauber und gepflegt, selbst wenn sie den größten Teil der Nacht darin verbracht hatte; heute trug sie eine ihrer vielenhochgeschlossenen weißen Blusen. Auf Joan wirkte Cassi immer wie eine junge Frau auf einer alten viktorianischen Daguerreotypie.
    »Was halten Sie davon, mich auf einige Minuten in die Pathologie zu begleiten?« fragte sie jetzt voller Begeisterung.
    »Pathologie?« wiederholte Joan mit leisem Mißbehagen.
    »Ich bin sicher, dort kriegen wir auch einen Kaffee«, meinte Cassi, als wäre das der Grund für Joans Zögern gewesen. »Geben Sie sich einen Ruck, vielleicht finden Sie’s ja sogar ganz interessant.«
    Joan ließ zu, daß Cassi sie ins Schlepptau nahm. Sie gingen hinunter auf den Hauptkorridor und zu der massiven Feuertür, die zum eigentlichen Krankenhaus führte. In Clarkson Zwei gab es keine verschlossenen Türen. Es war eine »offene« Station. Vielen der Patienten war es nicht gestattet, das Stockwerk zu verlassen, aber es lag an ihnen, ob sie gehorchten oder nicht. Sie wußten, daß sie damit rechnen mußten, ins State Hospital verlegt zu werden, wenn sie die Anweisungen mißachteten. Dort herrschte ein weit weniger angenehmes Klima.
    Als die Tür hinter ihr ins Schloß fiel, verspürte Cassi eine Welle der Erleichterung. Im Gegensatz zur Psychiatrie bereitete es hier keine Schwierigkeiten, Ärzte und Schwestern von den Patienten zu unterscheiden. Die Ärzte hatten entweder Anzugjacketts oder ihre weißen Kittel an, die Schwestern ihre weißen Uniformen und die Patienten ihre Morgenröcke und Schlafanzüge. In Clarkson Zwei trug jeder ganz normale Alltagskleidung.
    Während sie auf die Fahrstühle zumarschierten, fragte Joan: »Hat es Ihnen eigentlich in der Pathologie gefallen?«
    »Es war wunderbar«, antwortete Cassi.
    »Ich hoffe, Sie fühlen sich jetzt nicht beleidigt«, sagte Joan lachend, »aber ich finde, Sie sehen nicht gerade wie eine Pathologin aus.«
    »Da haben Sie die Geschichte meines Lebens«, sagte Cassi.
    »Zuerst wollte niemand glauben, daß ich Medizin studiere, dann sagten sie, ich sähe zu jung aus für eine Ärztin, und letzte Nacht hatte Colonel Bentworth die Freundlichkeit, mir zu erklären, daß ich nicht im geringsten seiner Vorstellung von einem Psychiater entspräche. Wie sehe ich Ihrer Meinung nach denn aus?«
    Joan antwortete nicht. Die Wahrheit wäre gewesen, daß Cassi eher wie eine Tänzerin oder wie ein Fotomodell aussah als wie eine Ärztin.
    Sie gesellten sich zu der Menschenmenge, die bereits vor den Fahrstuhlschächten wartete. Es gab nur sechs Aufzüge für den ganzen Haupttrakt – eine architektonische Fehlkalkulation, die dazu führte, daß man manchmal bis zu zehn Minuten auf eine Kabine warten mußte, die dann noch fast auf jedem Stockwerk dazwischen haltmachte.
    »Warum haben Sie denn dann die Abteilungen gewechselt?« erkundigte sich Joan, bereute die Frage aber, kaum daß sie ihr über die Lippen gekommen war. »Sie brauchen mir nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen. Ich will meine Nase nicht in Ihre Angelegenheiten stecken. Wahrscheinlich war das wieder mal der Psychiater in mir.«
    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, antwortete Cassi gleichmütig. »Tatsächlich gibt es eine ganz einfache Erklärung. Ich leide seit frühester Jugend an Diabetes. Als ich mich für mein medizinisches Spezialgebiet entschied, mußte ich mich dieser Realität stellen. Ich habe versucht, es zu ignorieren, aber es ist und bleibt ein Handicap.«
    Joans Verlegenheit wurde durch Cassis Offenheit noch gesteigert. Dennoch, so unwohl ihr auch zumute war, es wäre falsch gewesen, Cassis Ehrlichkeit unbeantwortet zu lassen. »Ich hätte gedacht, unter diesen Umständen wäre Pathologie eine gute Wahl gewesen.«
    »Das habe ich zuerst auch geglaubt«, sagte Cassi. »Unglückseligerweise habe ich im letzten Jahr Schwierigkeiten mit denAugen bekommen. Tatsächlich kann ich mit meinem linken Auge momentan sogar nur Hell und Dunkel unterscheiden. Ich bin sicher, Sie haben schon von Retinopathie diabetica gehört. Ich bin nicht gerade ein Pessimist, aber wenn alle Stricke reißen, könnte ich meinen Beruf als Psychiater sogar vollkommen blind ausüben. Ganz im Gegensatz zur Pathologie.

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