Gottspieler
erklärte ihr, daß sie zuckerkrank sei.
Cassi blickte Joan an und versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. »Mit neun kam ich ins Krankenhaus«, sagte sie hastig und hoffte, daß Joan ihren kurzen Tagtraum nicht bemerkt hatte. »Damals wurde die Diagnose gestellt.«
»Das war bestimmt keine leichte Zeit für Sie«, sagte Joan.
»Es hielt sich in Grenzen«, sagte Cassi. »In mancher Hinsicht war es eine Erleichterung, zu wissen, daß die Symptome, die ich aufwies, eine physische Basis hatten. Und als die Ärzte erst meinen Insulinbedarf stabilisiert hatten, ging es mir bald wieder besser. Ein paar Jahre später hatte ich mich dann sogar schon daran gewöhnt, mir selbst zweimal am Tag meine Insulinspritze zu geben. Ah, wir sind da.«
Sie verließen den Fahrstuhl. »Ich bin beeindruckt«, sagte Joan. »Ich bezweifle, daß ich in der Lage gewesen wäre, mit dem Medizinstudium fertig zu werden, wenn ich Diabetes gehabt hätte.«
»Natürlich hätten Sie das geschafft«, sagte Cassi. »Wir alle können mehr einstecken, als wir gemeinhin für möglich halten.«
Joan war nicht unbedingt derselben Meinung, äußerte sich aber nicht dazu. »Und Ihr Ehemann? Ich habe in meinem Leben den einen oder anderen Chirurgen kennengelernt und kann nur hoffen, daß er Verständnis hat und Ihnen eine Stütze ist.«
»O ja, das ist er«, sagte Cassi, aber die Antwort kam Joans analytischem Verstand etwas zu schnell.
Die Pathologie war eine eigene Welt, vom Rest des Krankenhauses isoliert. Joan war bereits über drei Jahre im Boston Memorial und hatte der Abteilung bisher noch nicht einen einzigen Besuch abgestattet. Innerlich hatte sie sich auf etwas Ähnliches wie die düstere, scheinbar noch aus dem 19. Jahrhundert stammende pathologische Abteilung der medizinischen Fakultät ihrer Studentenzeit eingestellt, komplett mit schäbigen Glastürschränken voller Einmachgläser, die entsetzliche Dinge in gelbem Formalin enthielten. Statt dessen fand sie sich in einer weißen, futuristischen Welt aus Kacheln, Kunststoff, rostfreiem Stahl und Glas wieder. Es gab keine Einmachgläser, kein Durcheinander und keine merkwürdigen, abstoßenden Gerüche. Am Eingang saßen mehrere Sekretärinnen mit Kopfhörern an Bildschirmen und tippten. Linkerhand befanden sich Büros, und in der Mitte des riesigen Raums stand ein langer weißer Kunststofftisch mit einer Reihe eindrucksvoller Forschungsmikroskope.
Cassi führte Joan in das erste Büro, wo ein elegant gekleideter junger Mann bei ihrem Eintritt von seinem Schreibtisch aufsprang und Cassi mit einer herzlichen, gänzlich unprofessionellen Umarmung begrüßte. Dann schob er sie ein Stück von sich weg, um sie ansehen zu können.
»Gott, siehst du gut aus«, sagte er. »Sag mal, du hast dir doch nicht etwa die Haare gefärbt?«
»Ich wußte, daß es dir auffallen würde«, lachte Cassi. »Von den anderen hat’s keiner gemerkt.«
»Natürlich fällt mir so was auf. Die Bluse ist auch neu, oder nicht?«
»Doch.«
»Sehr schön.« Er betastete das Material. »Ganz aus Baumwolle. Steht dir ausgezeichnet.«
»Ach, du meine Güte«, entfuhr es Cassi, als ihr Joan wieder einfiel. Rasch holte sie die Vorstellung nach. »Joan Widiker, Robert Seibert.«
Joan ergriff Roberts ausgestreckte Hand. Sein aufrichtiges, gewinnendes Lächeln gefiel ihr. Seine Augen funkelten, und Joan konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie einer genauen Musterung unterzogen wurde.
»Robert und ich haben zusammen studiert«, erklärte Cassi, während Robert ihr wieder den Arm um die Hüfte legte. »Und dann sind wir beide rein zufällig hier in der Pathologie des Boston Memorial gelandet.«
»Wenn man euch so ansieht, könnte man euch für Bruder und Schwester halten«, sagte Joan.
»Das sagt fast jeder«, meinte Robert sichtlich geschmeichelt. »Wir haben uns auch auf Anhieb gemocht, nicht zuletzt wegen der Tatsache, daß wir beide ernste Kinderkrankheiten hatten. Cassi hatte Diabetes und ich Gelenkrheumatismus.«
»Und wir haben beide Angst vor Operationen«, ergänzte Cassi, worauf Robert und sie in Gelächter ausbrachen.
»Eigentlich ist es gar nicht so komisch«, sagte Cassi. »Anstatt uns gegenseitig aufzubauen, haben wir uns noch mehr Angst eingejagt. Robert sollte sich eigentlich seine Weisheitszähne ziehen lassen, und bei mir müßte endlich mal was mit der Blutung in meinem linken Auge geschehen.«
»Ich habe beschlossen, bald zum Zahnarzt zu gehen – jetzt, wo du mir nicht
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