Gottspieler
jetzt schon so lange, und er hat mir auch von seiner eigenen Operation erzählt. Er muß sich zwei eingeklemmte Weisheitszähne ziehen lassen, und weil er zu Gelenkrheumatismus neigt, muß er stationär behandelt und intravenös mit Antibiotika versorgt werden.«
Sie bogen in Richtung Norden von der Route 128 ab und hielten auf den Ozean zu. Eine Nebelbank lag auf der Straße, und Thomas fuhr langsamer.
»Ich bin trotzdem der Meinung, daß man über solche Punkte nicht sprechen sollte«, sagte Thomas und kniff die Augen zusammen, als könnte er so den Nebel besser durchdringen. »Vor allem nicht mit jemand wie Robert Seibert. Es geht mir sowieso über den Horizont, wie du einen Mann tolerieren kannst, der sich so offen zu seinen homosexuellen Neigungen bekennt.«
»Über diese Neigungen haben wir noch nie ein Wort verloren«, sagte Cassi scharf.
»Ich frage mich, wie es euch gelungen ist, das Thema zu vermeiden.«
»Robert ist ein sensibler, intelligenter Mensch und ein verdammt guter Pathologe.«
»Ich wußte doch, daß er zum Ausgleich auch die eine oder andere gute Eigenschaft haben mußte«, sagte Thomas und war sich darüber im klaren, daß er seine Frau quälte.
Cassi schluckte die Antwort hinunter. Sie wußte, daß Thomas wütend war und sie zu provozieren versuchte. Sie wußte auch, daß die Situation nicht gerade entschärft wurde, wenn sie jetzt auch noch die Geduld verlor. Nach einem kurzen Schweigen streckte sie die Hand aus und massierte Thomas den Hals. Anfangs blieb er steif, aber nach ein paar Minuten spürte sie, wie er sich lockerte.
»Es tut mir leid, daß ich mit jemand über meine Diabetes gesprochen habe«, sagte sie, »und es tut mir leid, daß ich über den Zustand meines Auges gesprochen habe. Okay?«
Während sie ihm weiter den Hals massierte, starrte sie blicklos aus dem Fenster. Voll kalter Furcht fragte sie sich, ob Thomas vielleicht ihres Leidens müde war. Vielleicht hatte sie sich zu oft beklagt, vor allem in der chaotischen Zeit, in der sie von der Pathologie zur Psychiatrie gewechselt war. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, mußte Cassi zugeben, daß Thomas sich in den letzten Monaten etwas von ihr zurückgezogen hatte, daß er weniger Toleranz und mehr Impulsivität an den Tag legte. Sie schwor sich, nicht mehr soviel über ihr Leiden zu sprechen. Sie wußte besser als jede andere, unter welchenDruck Thomas sich selbst setzte, und sie wollte es nicht noch schlimmer machen.
Während sie ihre Hand weiter seinen Hals hinaufwandern ließ, überlegte sie, daß es vielleicht klüger war, das Thema zu wechseln. »Hat irgend jemand etwas zu dir gesagt, weil du drei Operationen vornimmst, während die anderen nur eine oder zwei durchführen?«
»Nein. Es ist immer dasselbe. Niemand kann etwas sagen, weil es niemand gibt, an dem ich mich messen könnte.«
»Wie wär’s, wenn du dich am Besten weit und breit messen würdest: an dir selbst!« sagte Cassi lächelnd.
»O nein!« rief Thomas. »Bitte, komm mir jetzt nicht mit deiner Pseudopsychologie.«
»Ist Konkurrenz denn an einem solchen Punkt noch von Bedeutung? Reicht es nicht, die Befriedigung zu haben, daß man Menschen wieder zu einem aktiven Leben verhilft?«
»Es ist kein schlechtes Gefühl«, gab Thomas zu. »Aber es verhilft mir nicht zu mehr Betten oder OP-Zeit, obwohl die Patienten, die ich vorschlage, vom körperlichen Zustand wie auch unter soziologischen Aspekten diejenigen sind, die beides am nötigsten brauchen. Ihre Dankbarkeit wird mich nicht einmal zum Direktor der Abteilung machen, wenn ich mir auch nicht klar darüber bin, ob ich den Posten überhaupt noch will. Um dir die Wahrheit zu sagen, nach einer Operation hält die Euphorie längst nicht mehr so lange an wie früher. In letzter Zeit habe ich häufig so ein Gefühl der Leere.«
Das Wort Leere erinnerte Cassi an etwas. War es ein Traum gewesen? Sie blickte sich im Inneren des Wagens um, nahm den charakteristischen Geruch des Leders auf, lauschte dem rhythmischen Klappen der Scheibenwischer und ließ ihre Gedanken schweifen. Was war das für eine Assoziation gewesen? Dann fiel es ihr ein – »Leere« war das Wort, mit dem Colonel Bentworth sein Leben in den letzten Jahren zu beschreiben versucht hatte. Wütend und leer, das hatte er gesagt.
Sie ließen den kahlen Wald hinter sich, rechts und links zogen Salzdünen vorbei. Durch die regennasse Windschutzscheibe gewann Cassi flüchtige Eindrücke von der düsteren Novemberlandschaft. Der Herbst war
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