Goya oder der arge Weg der Erkenntnis - Roman
die Schultern, machten sich lustig über ihr Alter und über ihre Leiden, und dann fuhr Martín zurück nach Saragossa.
Kaum war er fort, so machte sich Francisco auf den Weg, um allein und unbehindert zu erkunden, wie der taube Goya und die Stadt Madrid sich ineinander schickten. Es war eine kurze Strecke von seinem Haus zur Puerta del Sol, dem Hauptplatz der Stadt. Dort trafen viele große Straßen zusammen, die Calle Mayor, die Arenal, die Carmen, die Alcalá und viele andere.
Auf die Puerta del Sol also, zur Zeit des größten Verkehrs, stellte sich Goya. Zunächst stand er bei den Buden und Tischen der Händler auf dem Red de San Luis, dann ging er auf die Gradas, den großen Vorplatz der Kirche San Felipe El Real, dann zum Brunnen Mariablanca. Die Puerta del Sol galt als der lärmendste Platz der Welt, Goya beschaute den Lärm und das Getümmel. Er wurde gestoßen und geschimpft, er störte, wo immer er stand, aber er achtete es nicht, er schaute und genoß den Lärm. So abgestorben ihm sein Saragossa erschienen war, so lebendig war ihm sein Madrid.
»Frisches Wasser«, schrien die Aguadores, sie standen um den Brunnen Mariablanca, unter der sonderbaren Statue, von der niemand wußte, ob sie die Venus darstellen sollte oder den Glauben, die aber berühmt war, weil sie so vieles sah und hörte und, wiewohl eine Frau, nichts ausschwatzte. »Frisches Wasser«, schrien die Aguadores, »wer trinkt, wer will? Frisch von der Quelle.« – »Orangen«, schrien die Naranjeras, »zwei für einen Cuarto.« – »Einen kleinen Wagen, Señor«, boten die Lohnkutscher an. »Sehen Sie, was für ein schmuckes Wägelchen ich habe! Sehen Sie, was für ein artiges Tierchen ich habe! Eine Spazierfahrt in den Prado oder wohin Sie wollen.« – »Ein Almosen«, bettelte ein Krüppel, »um der Heiligsten Jungfrau willen. Ein kleines Almosen für einen tapfern Veteranen, der im Krieg gegen die Ketzer beide Beine verlorenhat.« – »Wie geht’s dir, Herzensjunge?« bot ein gefälliges Mädchen sich an. »Willst du mein kleines Zimmer sehen, mein Kleiner? Willst du mein kleines Bett sehen? Ein weiches, hübsches, kleines Bett, wie es kein zweites gibt.« – »Tut Buße!« donnerte von seiner Bank ein Prediger. »Tut Buße und kauft Ablaß!« – »Die Zeitung, die neue Zeitung, der ›Diario‹, die ›Gaceta‹«, schrien die Verkäufer, »die drei letzten Exemplare.« Und es schwatzten die Gardeoffiziere, und es lasen die Cortejos den Damen die bunten Anzeigen vor, und es lärmten die Soldaten der Wallonischen und der Schweizer Garde, und diejenigen, die Eingaben an die Behörden zu machen hatten, diktierten den öffentlichen Schreibern, und ein Gaukler trieb seinen Affen zum Tanz, und es stritten heiß die »proyectistas« über ihre Projekte, das Reich und die Welt zu verbessern, und es boten unverdrossen die Trödler ihre Waren an.
Goya stand und schaute. »Auf der Puerta del Sol«, ging das Sprichwort, »hüte dich vor den Frauen vor dir, den Maultieren hinter dir, den Wagen neben dir, den Schwätzern vor, neben und hinter dir.« Er hütete sich nicht. Er stand und schaute. Er hörte und hörte nicht, er kannte jeden Ruf und jedes Wort und kannte es schon nicht mehr und kannte es besser als jemals vorher.
Dann aber war da eine blinde Balladensängerin. Man hatte in Madrid Mißtrauen vor den Blinden, zu viele unter ihnen waren blind, um Taschendiebstähle besser ausführen zu können, oder zumindest, um mehr Mitleid zu erregen. Die Madrilenen waren gewohnt, grausame Späße mit diesen Blinden zu treiben, ob sie nun sahen oder nicht, und oft hatte Goya dabei mitgetan. Nun aber riß ihn die Blinde schmerzhaft zurück ins Bewußtsein seiner Taubheit. Sie sang und begleitete sich auf ihrer Guitarre, sicher hatte sie sich eine gute Moritat zusammengereimt, denn alle hörten mit Anteilnahme zu und mit Spannung, Angst, Freude: er, wiewohl er ihr scharf auf den Mund sah, verstand nichts. Der Partner der Sängerin indes zeigte Bilder zu dem, was sie sang, bunteKlecksereien, und plötzlich mußte Goya lachen; er bedachte, daß er ihre Worte nicht hören, sie die Bilder dazu nicht sehen konnte.
Es ging aber die Moritat offenbar um El Maragoto, jenen wilden Banditen, den der tapfere Mönch Zaldivia gefangengenommen hatte. El Maragoto war kein edler Bandit, er war ein stumpfer, bestialischer, blut- und geldgieriger Wüterich, und als der arme Mönch ihm das einzige anbot, was er besaß, seine Sandalen, hatte er ihn mit seinem Gewehr
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