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Grab im Wald

Grab im Wald

Titel: Grab im Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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37
    Die Zeit bleibt nicht stehen, wenn eine Pistole auf einen gerichtet ist.
    Im Gegenteil, sie läuft schneller. Als Ira die Pistole auf mich richtete, ging ich davon aus, dass ich noch Zeit zum Reagieren hatte. In einer primitiven Demonstration von Harmlosigkeit hob ich die Hände. Ich öffnete den Mund, um mich aus dieser Situation herauszureden, ich wollte ihm sagen, dass ich mit ihm kooperieren und das tun würde, was er verlangte. Mein Herz raste, mein Atem stockte, und ich konnte meine Augen nicht von der Pistole abwenden, ich sah nur noch die offene Mündung vor mir, dieses riesige schwarze Loch.
    Aber ich hatte keine Zeit. Ich hatte keine Zeit, Ira zu fragen, warum er das tat. Ich hatte keine Zeit, ihn zu fragen, was mit meiner Schwester passiert war, ob sie noch lebte, ob sie wie Gil in jener Nacht aus dem Wald herausgekommen war oder ob Wayne Steubens etwas mit der Sache zu tun hatte. Ich hatte keine Zeit, Ira zu sagen, dass er Recht hatte, dass ich die Finger von der alten Geschichte hätte lassen sollen, dass ich ab sofort die Finger davon lassen würde und dass wir alle unser Leben fortführen konnten, als ob nichts geschehen wäre.
    Für gar nichts davon hatte ich Zeit.
    Weil Ira schon abdrückte.
    Vor einem Jahr habe ich ein Buch mit dem Titel Blink! Die Macht des Moments von Malcolm Gladwell gelesen. Ich möchte seine bündige Argumentation hier nicht zu sehr vereinfachen,
aber er sagt unter anderem, dass wir uns viel mehr auf unsere Instinkte verlassen müssen – auf den tierischen Teil unseres Gehirns, der verlangt, dass wir automatisch zur Seite springen, wenn ein Lkw auf uns zurast. Er sagt auch, dass wir extrem schnelle Entscheidungen oft auf der Grundlage fast unmerklicher Hinweise treffen, was wir dann Intuition nennen, und dass diese Entscheidungen oft richtig sind. Vielleicht half mir in dieser Situation genau das. Vielleicht hatte ich irgendwie an Iras Haltung oder an der Bewegung, mit der er die Pistole zog, erkannt, dass ich wirklich nicht mit ihm reden konnte, dass er sofort abdrücken und ich daraufhin sterben würde.
    Irgendetwas verriet mir, dass ich sofort zur Seite springen musste.
    Die Kugel traf mich trotzdem.
    Er hatte mitten auf meine Brust gezielt. Die Kugel traf mich in die Seite und fuhr mir wie ein heißer Speer durch die Hüfte. Ich schlug hart auf den Boden und versuchte, mich hinter einen Baum zu rollen. Ira schoss noch einmal. Dieses Mal verfehlte er mich. Ich rollte weiter.
    Meine Hand berührte einen Stein. Es war kein echter Gedanke, aber ich ergriff den Stein und schleuderte ihn in Iras Richtung. Es war ein armseliger Wurf, der vielleicht am ehesten mit der Verzweiflungstat eines auf dem Bauch liegenden Babys vergleichbar war.
    Es lag keine Kraft in dem Wurf. Der Stein traf Ira sogar, aber der merkte das wohl kaum. Jetzt wurde mir klar, dass Ira das die ganze Zeit geplant hatte. Deshalb wollte er mich allein sprechen. Deshalb hatte er mich in den Wald geführt. Weil er mich erschießen wollte.
    Ira, diese scheinbar so sanfte Seele, war ein Mörder.
    Ich sah mich um. Er war zu nah. Ich dachte an die Szene in dem Film Zwei in Teufels Küche, in dem Alan Arkin aufgefordert wird, in »Serpentinen« zu laufen, damit er nicht getroffen wird.
Das funktionierte hier nicht. Ira war nur gut zwei Meter hinter mir. Er hatte eine Pistole. Ich hatte schon einen Treffer abbekommen und spürte, wie das Blut aus mir heraustropfte.
    Ich würde sterben.
    Wir stürzten den Hügel hinab, ich rollend, Ira hinkend und stolpernd, wobei er versuchte, sein Gleichgewicht wiederzugewinnen, damit er noch einmal schießen konnte. Ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ihm das gelang. Mir blieben nur wenige Sekunden.
    Meine einzige Chance bestand in einem Richtungswechsel.
    Ich griff in den Boden und stoppte. Ira war überrascht. Er versuchte abzubremsen. Ich umklammerte mit beiden Händen einen dünnen Baum und trat mit beiden Beinen nach ihm. Auch das war ein armseliger Abwehrversuch, dachte ich, wie ein schlechter Turner an einem Seitpferd. Aber Ira war ziemlich dicht hinter mir und kämpfte immer noch mit der Balance. Ich traf ihn mit den Füßen am rechten Knöchel. Nicht sehr hart, aber hart genug.
    Ira stieß einen Schrei aus und fiel zu Boden.
    Die Pistole, dachte ich. Hol dir die Pistole.
    Ich krabbelte so schnell ich konnte zu ihm. Ich war größer als er. Und jünger. Ich war besser durchtrainiert. Er war ein alter Mann mit halbverdorrtem Gehirn. Er konnte zwar

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