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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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wochenlang völlig ignoriert – kein Wort mit den Eltern gesprochen, uns nicht mal angeguckt, im Unterricht keinen Pieps mehr gesagt. Über die Hausaufgaben in ihren Schulheften schrieb Jamie jeden Tag ›Schick mich nicht weg‹ ...«
    Sie hatte recht: Es war ein Streik gewesen. JAMIE SOLL BLEIBEN, rote Druckbuchstaben quer über Kästchenpapier. Meine Mutter, die hilflos versuchte, mich zur Vernunft zu bringen, während ich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa saß, ohne eine Reaktion, auf den Fingernägeln kaute, während mein Magen vor Aufregung und Panik ob meiner eigenen Dreistigkeit revoltierte. Aber wir haben gewonnen, dachte ich verwirrt, und ob wir gewonnen haben: Jubel und Jauchzer auf der Burgmauer, triumphierend hochgestreckte Coladosen – »Aber Sie sind bei Ihrer Entscheidung geblieben«, sagte Cassie.
    »Na ja, nicht direkt. Die Kinder haben mich zermürbt. Es war ungemein schwierig, wissen Sie – die ganze Siedlung hat darüber geredet, und Jamie hat es so dargestellt, als müsste sie ins Erziehungsheim oder so. Ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte ... Am Ende hab ich gesagt: ›Na schön, ich denk nochmal drüber nach.‹ Ich hab den Kindern gesagt, sie sollten sich keine Sorgen machen, wir würden schon eine Lösung finden, und sie haben ihren Protest beendet. Ich hatte wirklich vor, noch ein Jahr zu warten, aber meine Eltern hatten angeboten, für Jamie das Schulgeld zu bezahlen, und ich war mir nicht sicher, ob sie nach einem Jahr auch noch dazu bereit gewesen wären. Ich weiß, das hört sich an, als wäre ich eine schreckliche Mutter gewesen, aber ich hab wirklich gedacht ...«
    »Überhaupt nicht«, sagte Cassie. Ich schüttelte automatisch den Kopf. »Und dann, als Sie Jamie gesagt haben, sie müsste doch aufs Internat ...«
    »Du meine Güte, da war sie ...« Alicia rang die Hände. »Sie war am Boden zerstört. Sie sagte, ich hätte sie angelogen. Was nicht stimmte, wirklich ... Und dann ist sie nach draußen gestürzt, zu den anderen, und ich dachte: ›Oh Gott, jetzt hören sie wieder auf zu sprechen, aber zum Glück sind es ja nur noch ein, zwei Wochen‹ – ich hab es ihr erst ganz am Schluss gesagt, wissen Sie, damit sie den Sommer noch genießen konnte. Und dann, als sie nicht nach Hause kam, hab ich angenommen ...«
    »Dass sie weggelaufen ist«, sagte Cassie sanft. Alicia nickte. »Halten Sie das noch immer für möglich?«
    »Nein. Ich weiß nicht. Ach, Detective, an einem Tag denke ich so, am nächsten ... Aber wenn ja, hätte sie doch wohl das Geld aus ihrem Sparschwein mitgenommen, oder nicht? Und Adam ist ja im Wald gefunden worden. Und wenn sie weggelaufen wären, dann hätte sie doch bestimmt inzwischen ... dann hätte sie ...«
    Sie wandte sich jäh ab, hob eine Hand vors Gesicht. »Als Ihnen der Verdacht kam, dass sie vielleicht nicht weggelaufen war«, sagte Cassie, »was haben Sie da als Erstes gedacht?«
    Alicia atmete wieder bewusst ein und aus, faltete dann die Hände im Schoß. »Ich hab gedacht, ihr Vater hätte sie vielleicht geholt ... ich habe es gehofft . Er und seine Frau konnten keine Kinder bekommen, wissen Sie, deshalb hab ich gedacht ... Aber dem war nicht so, wie die Polizei rausgefunden hat.«
    »Mit anderen Worten«, sagte Cassie, »Sie hatten keinen Grund zu der Annahme, irgendjemand könnte ihr etwas angetan haben. Sie hatte vor niemandem Angst gehabt oder war wegen irgendwas durcheinander gewesen, in den Wochen davor, meine ich.«
    »Eigentlich nicht, nein. Mir fällt nur eine Sache ein – etwa zwei Wochen vorher, da kam sie früher als sonst vom Spielen nach Hause. Sie wirkte ein bisschen mitgenommen und war den ganzen Abend auffällig still. Ich hab gefragt, ob irgendwas passiert ist, ob jemand sie belästigt hat, aber sie hat nein gesagt.«
    Irgendetwas Dunkles regte sich in meinem Kopf – früher als sonst nach Hause, Nein, Mummy, alles in Ordnung –, aber es war viel zu tief vergraben. »Ich hab es den Detectives erzählt«, sagte Alicia, »aber sie konnten wohl nicht viel damit anfangen, nicht? Und vielleicht war es ja auch ganz harmlos. Vielleicht hatte sie sich mit den Jungs gezankt. Vielleicht hätte ich erkennen müssen, ob es was Ernstes war oder nicht ... Aber Jamie war ein sehr zurückhaltendes Kind, sehr verschlossen. Sie war schwer zu durchschauen.«
    Cassie nickte. »Zwölf ist ein schwieriges Alter.«
    »Ja, das stimmt, das ist es wirklich. Das war das Problem, ich glaub, ich hab nicht erkannt, dass sie

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