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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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gesehen. Aber vielleicht wurde der Täter von Schuldgefühlen verfolgt, seit der Sache damals. Vielleicht hat er gedacht, er hat weniger Schuldgefühle, wenn er diesmal dafür sorgt, dass die Familie den Leichnam seines Opfers zurückbekommt. Und Sam hat recht: Wie hoch sind die Chancen, dass zwei verschiedene Kindermörder an ein und demselben Ort zuschlagen? Wenn ich wetten müsste ... ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
    Ich stieg auf die Bremse, mit aller Kraft. Ich glaube, Cassie und ich schrien beide auf. Etwas war vor dem Wagen über die Straße geflitzt – irgendetwas Dunkles und Geducktes, geschmeidig wie ein Wiesel oder Hermelin, aber dafür auch wieder viel zu groß – und es war in der Hecke auf der anderen Seite verschwunden.
    Wir flogen in unseren Sitzen nach vorn – ich war auf der kleinen Straße viel zu schnell gefahren –, aber wir waren zum Glück angeschnallt, worauf Cassie immer eisern bestand, weil es ihren Eltern vielleicht das Leben gerettet hätte. Der Wagen kam schräg auf der Straße zum Stehen, ein Rad nur wenige Zentimeter vom Graben entfernt. Cassie und ich saßen reglos da, wie betäubt. Im Radio jodelte eine Mädchenband irrsinnig gut gelaunt vor sich hin.
    »Rob?«, fragte Cassie schließlich atemlos. »Alles in Ordnung?«
    Ich konnte meine Hände nicht vom Lenkrad lösen, so fest hatten sie es umkrallt. »Was zum Teufel war das?«
    »Was meinst du?« Ihre Augen waren weit aufgerissen und verängstigt.
    »Das Tier«, sagte ich. »Was war das?«
    Cassie blickte mich mit einem neuen Ausdruck in den Augen an, der mir fast genauso einen Schrecken einjagte wie dieses Vieh, das über die Straße gelaufen war. »Ich hab kein Tier gesehen.«
    »Es war direkt vor uns. Du hast es vielleicht nicht gesehen, weil du zum Seitenfenster rausgeschaut hast.«
    »Kann sein«, sagte sie nach einer endlos langen Zeit. »Ja, so wird’s gewesen sein. War vielleicht ein Fuchs.«

    Sam hatte seinen Journalisten binnen weniger Stunden aufgetrieben: Michael Kiely, zweiundsechzig und nach einer mäßig erfolgreichen Laufbahn schon fast im Ruhestand. Seinen Karrieregipfel hatte er in den Achtzigerjahren erklommen, als er herausfand, dass ein Minister im Kabinett neun Familienmitglieder als »Berater« auf seiner Gehaltsliste stehen hatte, aber derart schwindelnde Höhen waren ihm seitdem versagt geblieben. 2000, als die Schnellstraßenpläne publik wurden, hatte Kiely in einem beißenden Artikel geschrieben, das Projekt habe sein Hauptziel bereits erreicht: Am Morgen seiner Bekanntgabe habe es eine Menge Grundstücksspekulanten in Irland glücklich gemacht. Abgesehen von einem glattzüngigen offenen Brief des Umweltministeriums, mit dem Tenor, die Schnellstraße brächte nichts als Vorteile, hatte es keine Reaktionen gegeben.
    Sam brauchte einige Tage, um Kiely zu einem Treffen zu überreden – als er Knocknaree das erste Mal erwähnte, rief Kiely: »Halten Sie mich für bescheuert, Mann?«, und legte auf –, doch er wollte auf keinen Fall mit ihm irgendwo in der Stadt gesehen werden. Der Journalist schlug als Treffpunkt einen abgelegenen Pub irgendwo am anderen Ende von Phoenix Park vor: »Sicherer, mein Junge, erheblich sicherer.«
    Er hatte eine gebogene Nase und eine kunstvoll windzerzauste weiße Haarmähne – »sah irgendwie aus wie ein Poet«, sagte Sam vage am selben Abend beim Essen. Sam hatte ihm einen Bailey’s und einen Brandy spendiert und versucht, das Gespräch auf die Schnellstraße zu bringen, aber Kiely fuhr zurück, hob eine Hand und blinzelte, als täte ihm etwas weh: »Nicht so laut, mein Junge, senken Sie die Stimme ... Oh, irgendwas ist da nicht ganz koscher, ohne Zweifel. Aber jemand – keine Namen, ich will niemanden in Schwierigkeiten bringen –, irgendwer hat mir die Story weggenommen, ehe es richtig losging. Aus rechtlichen Gründen, hieß es, aus Mangel an Beweisen ... Absurd. Blödsinn. Das war rein persönlich, reine Bosheit. Dieses Kaff, mein Junge, dieses verfluchte Kaff hat ein langes Gedächtnis.«
    Doch bei der zweiten Runde war er ein wenig entspannter und wurde nachdenklich. »Manche könnten behaupten«, sagte er, beugte sich auf seinem Stuhl vor und gestikulierte ausladend, »manche könnten behaupten, dass in Knocknaree von Anfang an der Wurm drinsteckte. Zuerst das ganze Gerede von einem neuen urbanen Zentrum, und dann, als alle Häuser in der einen Siedlung verkauft waren, schlagartig Schluss. Es hieß, das Budget würde keine weiteren Bauvorhaben erlauben.

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