Grabesgrün
diagnostiziert. Was würdest du wetten, dass die Hälfte der Regierung –«
»Rob«, sagte Cassie. »Sei still. Bitte. Ich will dir was erzählen.«
Diesmal entging mir ihre Anspannung nicht. Sie kam herüber und gab mir mein Glas, ging mit ihrem ans Fenster und lehnte sich gegen die Fensterbank. »Du hast mal gefragt, warum ich das College geschmissen hab«, sagte sie, ganz ruhig. »Im zweiten Studienjahr hab ich mich mit einem Typen angefreundet, der mit mir im selben Seminar war. Er war beliebt, sah ganz gut aus, war sehr charmant und intelligent und interessant. Ich wollte nichts von ihm oder so, aber ich glaube, ich fühlte mich geschmeichelt, dass er mir so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat. Wir haben Seminare blaugemacht und stundenlang Kaffee getrunken und gequatscht. Er hat mir öfter was geschenkt – nichts Teures, und manches davon sah gebraucht aus, aber wir waren Studenten, immer knapp bei Kasse, und die Geste zählt, richtig? Alle fanden das total süß, wie gut wir uns verstanden.«
Sie nahm einen Schluck Wein, schluckte schwer. »Ich kam relativ schnell dahinter, dass er mich ziemlich oft belog, meistens aus keinem triftigen Grund, aber er hatte mir erzählt, er hätte eine schreckliche Kindheit gehabt und wäre in der Schule schikaniert worden, deshalb hab ich mir gedacht, er hätte sich die Lügerei angewöhnt, so als Selbstschutz. Ich hab gedacht – ich fass es nicht –, ich hab gedacht, ich könnte ihm helfen: Wenn er weiß, dass er eine gute Freundin hat, die immer zu ihm hält, dann wird er sicherer und braucht nicht mehr zu lügen. Ich war erst achtzehn, neunzehn.«
Ich wagte nicht, mich zu rühren, nicht mal mein Glas abzustellen. Ich hatte Angst, jede noch so kleine Bewegung, und sie hätte sich von der Fensterbank abgestoßen und mit einer flapsigen Bemerkung das Thema gewechselt. Ihr Mund war seltsam angespannt, sodass sie viel älter wirkte, und ich wusste, sie hatte diese Geschichte noch nie jemandem erzählt.
»Ich hab nicht mal gemerkt, dass ich mich zunehmend von allen anderen entfremdete, mit denen ich mich angefreundet hatte, weil er eingeschnappt war, wenn ich mich mal mit jemandem traf, und mir die kalte Schulter zeigte. Er zeigte mir ziemlich oft die kalte Schulter, manchmal aus völlig unerfindlichen Gründen, und ich hab mir jedes Mal das Hirn zermartert, was ich wieder falsch gemacht hatte, und mich tausendmal entschuldigt und versucht, es wiedergutzumachen. Wenn wir uns trafen, wusste ich nie, was mich erwartete: Umarmungen und Komplimente oder die kalte Schulter und strafende Blicke. Es lag einfach keine Logik darin. Manchmal machte er komische Sachen – bloß Kleinigkeiten: borgte sich meine Seminarnotizen kurz vor einer Klausur, vergaß anschließend tagelang, sie mir wieder mitzubringen, behauptete dann, er hätte sie verloren, und wurde wütend, als ich sie zufällig aus seiner offenen Tasche lugen sah; so was eben ... Dann war ich stinkwütend auf ihn, hätte ihm den Hals umdrehen können, aber andererseits war er immer wieder so nett, sodass ich mich weiter mit ihm traf.« Ein zartes, schiefes Lächeln. »Ich wollte ihm nicht wehtun.«
Sie brauchte drei Versuche, um eine Zigarette anzuzünden. Cassie, die mir ganz locker hatte erzählen können, dass sie von einem Drogendealer niedergestochen worden war. »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »das ging fast zwei Jahre so. Im Januar des vierten Studienjahres hat er versucht, mich anzumachen, in meiner Wohnung. Ich hab mich nicht drauf eingelassen – keine Ahnung, warum, zu der Zeit war ich schon so konfus, dass ich kaum noch wusste, was ich tat, aber Gott sei Dank funktionierten ein paar Instinkte noch ganz gut. Ich hab gesagt, ich wolle nur mit ihm befreundet sein, er hat auch ganz einsichtig reagiert, wir haben drüber geredet, er ist gegangen. Als ich am nächsten Tag ins Seminar kam, starrten mich alle so komisch an, und keiner hat mit mir gesprochen. Ich hab zwei Wochen gebraucht, bis ich rausfand, was los war. Ich hab eine Kommilitonin, Sarah-Jane, mit der ich im ersten Jahr ganz gut befreundet gewesen war, zur Rede gestellt, und sie hat gesagt, alle wüssten, was ich ihm angetan hätte.«
Sie zog an ihrer Zigarette, fest und schnell. Sie schaute mich an, sah mir aber nicht in die Augen; ihre waren ganz groß, geweitet. Ich musste an Jessica Devlins benommenen, narkotisierten Starrblick denken. »An dem Abend, als ich ihn abblitzen ließ, ist er gleich zu der Wohnung von den anderen Studentinnen gelaufen, aus
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