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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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unserem Seminar. In Tränen aufgelöst. Er hat ihnen erzählt, er und ich wären schon länger heimlich ein Paar gewesen, doch er hätte gemerkt, das wir nicht zueinander passen, und ich hätte zu ihm gesagt, wenn er Schluss macht, würde ich allen erzählen, er hätte mich vergewaltigt. Er hat gesagt, ich hätte gedroht, zur Polizei zu gehen, zur Presse, sein Leben zu ruinieren.« Sie sah sich nach einem Aschenbecher um, schnippte dann die Asche daneben.
    Ich kam zu der Zeit gar nicht auf die Idee, mich zu fragen, warum sie mir die Geschichte erzählte, jetzt. Das klingt vielleicht seltsam, aber in dem Monat war alles seltsam, seltsam und unsicher. In dem Augenblick, als Cassie zu O'Kelly gesagt hatte, »Wir übernehmen das«, war irgendeine unaufhaltsame tektonische Verschiebung in Gang gesetzt worden. Vertraute Dinge brachen vor meinen Augen auf und kehrten sich von innen nach außen, die Welt wurde wunderschön und gefährlich zugleich, wie eine glänzende, durch die Luft wirbelnde Klinge. Dass Cassie auf einmal die Tür zu einem ihrer geheimen Räume öffnete, kam mir vor wie ein ganz natürlicher, unvermeidlicher Teil dieser gewaltigen Veränderung. Erst viel später begriff ich, dass ich viel genauer hätte hinhören müssen.
    »Mein Gott«, sagte ich nach einer Weile. »Nur weil du sein Ego angekratzt hast?«
    »Nicht nur deshalb«, sagte Cassie. Sie trug einen weichen, kirschfarbenen Pullover, und ich sah, dass er vibrierte, direkt über ihrer Brust, und ich merkte, dass auch mein Herz raste. »Weil er gelangweilt war. Weil er, als ich ihn abblitzen ließ, erkannte, dass aus mir nicht mehr Vergnügen rauszuholen war, und das war dann der einzige andere Verwendungszweck, den er für mich hatte. Weil es im Grunde genommen darum ging, sich einen Spaß zu machen.«
    »Hast du Sarah-Jane erzählt, wie es wirklich war?«
    »Oh ja«, sagte Cassie ruhig. »Ich hab’s jedem erzählt, der noch mit mir gesprochen hat. Keiner hat mir geglaubt. Alle haben ihm geglaubt. Sogar Leute, die ich für meine Freunde gehalten hatte.«
    »Ach, Cassie«, sagte ich. Ich wäre gern zu ihr gegangen, um sie in den Arm zu nehmen und sie zu halten, bis die schreckliche Starre aus ihrem Körper gewichen wäre, um sie zurückzuholen von jenem fernen fremden Ort, zu dem sie entschwunden war. Aber ihre Unbeweglichkeit, ihre gespannten Schultern: Ich wusste nicht, ob es ihr lieb gewesen wäre oder ob es das Schlimmste gewesen wäre, was ich tun konnte. Vielleicht war das Internat schuld, vielleicht, wenn Sie wollen, irgendein tiefsitzender Charakterfehler. Jedenfalls, ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich bezweifle, dass es auf lange Sicht etwas geändert hätte. Aber gerade deshalb wünsche ich mir umso mehr, ich hätte zumindest in diesem einen Augenblick gewusst, was ich tun soll.
    »Ich hab noch zwei Wochen durchgehalten«, sagte Cassie. Sie zündete sich eine neue Zigarette am Ende der alten an, etwas, was ich noch nie bei ihr erlebt hatte. »Er war ständig umgeben von Leuten, die ihn fürsorglich tätschelten und mir böse Blicke zuwarfen. Manche kamen zu mir und meinten, ich wäre der Grund, warum echte Vergewaltiger davonkämen. Eine Kommilitonin sagte, ich hätte es verdient, vergewaltigt zu werden, damit ich kapiere, was ich Schreckliches gemacht hab.«
    Sie lachte, ein kurzer, rauer Ton. »Absurd, nicht? Ein Haufen Psychologiestudenten, und keiner dabei, der einen klassischen Psychopathen erkennt. Weißt du, was seltsam war? Ich hab mir tatsächlich gewünscht, ich hätte all das getan, was er von mir behauptet hat. Dann hätte das alles Sinn gemacht: Ich hätte bekommen, was ich verdient hätte. Aber ich hatte nichts getan, und es hat trotzdem absolut nichts geändert. Von Ursache und Wirkung konnte keine Rede sein. Ich hab gedacht, ich verlier den Verstand.«
    Ich beugte mich vor – langsam, wie man sich einem verängstigten Tier nähern würde – und nahm ihre Hand; wenigstens das brachte ich fertig. Sie stieß ein atemloses Lachen aus, drückte meine Finger, ließ sie dann los. »Wie auch immer. Irgendwann kam er dann zu mir, in der Cafeteria – seine Anhängerinnen wollten ihn zurückhalten, aber er hat sie tapfer abgeschüttelt. Er ist zu mir an den Tisch gekommen und hat laut gesagt, damit alle ihn hören konnten: ›Bitte hör auf, mich mitten in der Nacht anzurufen. Was hab ich dir denn bloß getan?‹ Mir verschlug es die Sprache. Mir fiel nichts anderes ein als: ›Ich hab dich doch gar nicht

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