Grabesgrün
behandelt hab? Oder aus einem anderen Grund?«
Nach kurzem Zögern sagte sie sehr leise: »Du glaubst, ich hab es ihm erzählt?«
Ich hätte fast gelacht. »Ja, allerdings, das glaube ich. Es wissen nur ganze fünf Leute auf der Welt von der Sache, und irgendwie bezweifle ich, dass meine Eltern oder ein Freund von vor fünfzehn Jahren ausgerechnet bis jetzt gewartet haben, um meinen Boss anzurufen und zu sagen: ›Ach, übrigens, wissen Sie eigentlich, dass Ryan früher mit Vornamen Adam hieß?‹ Für wie blöd hältst du mich? Ich weiß , dass du es ihm erzählt hast, Cassie.«
Sie hatte die Augen nicht von mir genommen, aber etwas in ihnen hatte sich verändert, und mir wurde klar, dass sie genauso wütend war wie ich. Mit einer einzigen schnellen Bewegung nahm sie eine Videokassette vom Tisch und warf sie mit voller Wucht in meine Richtung. Ich duckte mich reflexartig, und sie flog hinter mir in Kopfhöhe gegen die Wand, prallte ab und rutschte in eine Ecke.
»Guck dir das Band an«, sagte Cassie.
»Interessiert mich nicht.«
»Du guckst dir sofort das Band an, sonst, und das schwöre ich dir, prangt dein Konterfei morgen auf der ersten Seite jeder Zeitung im Land.«
Nicht die Drohung selbst schockte mich, sondern eher die Tatsache, dass sie sie ausgesprochen hatte, ihre Trumpfkarte ausgespielt, wie ich vermutete. Das löste etwas in mir aus: Neugier, gemischt mit irgendeiner leisen, furchtbaren Vorahnung. Ich hob die Kassette vom Boden auf, schob sie in den Rekorder und drückte auf Start. Cassie, die Arme fest um die Taille gelegt, beobachtete mich regungslos. Ich schwenkte einen Stuhl herum und setzte mich vor den Bildschirm, mit dem Rücken zu ihr.
Es war eine unscharfe Schwarz-Weiß-Aufnahme von Cassies Sitzung mit Rosalind am Vorabend. Der Zeitstempel zeigte 20:27 Uhr. Im Raum nebenan hatte ich gerade jede Hoffnung aufgegeben, mit Damien noch einen Schritt weiterzukommen. Rosalind war allein im Hauptverhörraum, zog sich die Lippen in einem kleinen Schminkspiegel nach. Im Hintergrund waren Geräusche zu hören, und ich brauchte einen Moment, um zu erkennen, was das war: heisere, hilflose Schluchzer und dann darüber meine Stimme, die sagte: »Damien, Sie müssen mir erklären, warum Sie es getan haben.« Cassie hatte über die Gegensprechanlage die Verbindung mit meinem Verhörraum hergestellt. Rosalinds Kopf fuhr hoch. Sie starrte in den Einwegspiegel, und ihr Gesicht war völlig ausdruckslos.
Die Tür ging auf, und Cassie trat ein. Rosalind steckte ihren Lippenstift zurück in die Handtasche. Damien schluchzte noch immer. »Mist«, sagte Cassie mit Blick auf die Gegensprechanlage. »Tut mir leid.« Sie stellte das Gerät aus. Rosalinds Mund verzog sich zu einem verkniffenen, ungehaltenen Lächeln.
»Vernehmung von Rosalind Frances Devlin durch Detective Maddox«, sagte Cassie in die Kamera. »Nehmen Sie Platz.«
Rosalind rührte sich nicht. »Ich würde lieber nicht mit Ihnen reden«, sagte sie mit einer eisigen, ablehnenden Stimme, die ich nie bei ihr gehört hatte. »Ich möchte mit Detective Ryan sprechen.«
»Tut mir leid, das geht nicht«, sagte Cassie heiter und setzte sich auf einen Stuhl. »Er ist mit einer Vernehmung beschäftigt, wie Sie bestimmt gehört haben«, sagte sie mit einem bedauernden kleinen Lächeln.
»Dann komme ich wieder, wenn er Zeit hat.« Rosalind klemmte sich ihre Handtasche unter den Arm und strebte Richtung Tür.
»Moment, Miss Devlin«, sagte Cassie, und jetzt lag ein neuer, harter Unterton in ihrer Stimme. Rosalind seufzte und drehte sich um, die Augenbrauen verächtlich gehoben. »Gibt es einen besonderen Grund, warum es Ihnen plötzlich widerstrebt, Fragen im Zusammenhang mit dem Mord an Ihrer Schwester zu beantworten?«
Ich sah, wie Rosalinds Blick zur Kamera huschte, nur ganz kurz, aber das kleine, kalte Lächeln blieb unverändert. »Detective«, sagte sie, »wenn Sie ehrlich zu sich selbst sind, wissen Sie, dass ich mehr als bereit bin, bei den Ermittlungen behilflich zu sein, so gut ich kann. Ich möchte einfach nicht mit Ihnen sprechen, und ich bin sicher, Sie wissen, warum.«
»Tun wir mal so, als wüsste ich es nicht.«
»Ach, Detective, es war doch von Anfang an nicht zu übersehen, dass meine Schwester Ihnen völlig egal ist. Ihnen geht es doch nur darum, mit Detective Ryan zu flirten. Verstößt es nicht gegen die Dienstvorschrift, mit Ihrem Partner zu schlafen?«
Erneut kochte die Wut in mir hoch, so heftig, dass es mir den Atem verschlug.
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