Grabesgrün
trinken, ich hatte keine Lust auf nichts und niemanden.
»Machen Sie, dass Sie herkommen«, sagte O’Kelly. »Sofort.« Und er legte auf.
Mein Körper verstand es zuerst. Ich erstarrte, mein Brustbein drückte mir auf die Lunge, und ich hatte Mühe zu atmen. Ich weiß nicht, woher ich es wusste. Es lag auf der Hand, dass mir Ärger drohte: Wenn O’Kelly nur auf den Stand der Dinge gebracht werden will, steckt er den Kopf zur Tür herein, bellt, »Ryan, Maddox, in mein Büro«, und ist gleich wieder verschwunden. Übers Telefon zitiert er nur jemanden zu sich, der großen Mist gebaut hat. Es könnte natürlich um alles Mögliche gehen – einen wichtigen Tipp, den ich nicht ernst genommen hatte, Jonathan Devlin, der sich über meine rüden Manieren beschwert hatte, Sam, der dem falschen Politiker auf den Schlips getreten war; aber ich wusste, das war es nicht.
O’Kelly stand mit dem Rücken zum Fenster, die Fäuste tief in den Hosentaschen. »Adam Robert Ryan«, sagte er. »Und Ihnen ist nie der Gedanke gekommen, dass ich das wissen sollte?«
Eine Welle entsetzlicher, sengender Scham flutete über mich hinweg. Das Gesicht brannte mir wie Feuer. So etwas hatte ich seit meiner Schulzeit nicht mehr empfunden, diese ungeheure, vernichtende Erniedrigung, die hohle Leere in der Magengegend, wenn du ganz genau weißt, dass du erwischt worden bist und du es weder abstreiten noch dich sonst irgendwie aus der Sache rauswinden kannst. Ich blickte auf O'Kellys Schreibtisch, suchte in der Maserung des Furniers nach irgendwelchen Bildern, wie ein Schuljunge, der auf Schläge wartet. Für mich war mein Schweigen immer eine Geste stolzer, einsamer Unabhängigkeit gewesen, etwas, was ein wettergegerbter Clint Eastwood gemacht hätte, und zum ersten Mal erkannte ich, was es wirklich war: kurzsichtig und pubertär und verräterisch und unbeschreiblich dumm.
»Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie diese Ermittlung vielleicht total und restlos versaut haben?«, fragte O’Kelly kalt. Er wird stets eloquenter, wenn er wütend ist, ein weiterer Grund, warum ich ihn für intelligenter halte, als er sich gibt. »Überlegen Sie nur mal eben, was ein guter Strafverteidiger daraus für Kapital schlagen könnte, vorausgesetzt, die Sache kommt überhaupt noch vor Gericht. Ein Detective ist der einzige Augenzeuge und das einzige überlebende Opfer in einem ungelösten Fall, der mit dem aktuellen Fall zusammenhängt , in dem er die Ermittlungen leitet – nicht zu fassen. Während der Rest der Menschheit von tollem Sex träumt, träumen Strafverteidiger von Ermittlern, wie Sie einer sind. Nicht nur, dass sie Ihnen vorwerfen können, Sie wären außerstande, eine unbefangene Ermittlung durchzuführen, nein, Sie kommen sogar selbst als potenzieller Verdächtiger in einem oder gar beiden Fällen in Frage. Die Medien und die Verschwörungstheoretiker und die Polizeigegner werden sich auf die Sache stürzen. Innerhalb einer Woche wird sich in diesem Land keiner mehr erinnern können, wer hier eigentlich vor Gericht steht.«
Ich starrte ihn an. Nach diesem neuen Schlag, der mich wie aus dem Nichts traf, war ich betäubt und sprachlos. Es mag unglaublich klingen, aber ich schwöre, ich bin nie auf die Idee gekommen, nicht ein einziges Mal in zwanzig Jahren, ich könnte verdächtigt werden, für Peter und Jamies Verschwinden verantwortlich zu sein. In der Akte stand nichts davon, gar nichts. Das Irland des Jahres 1984 gehörte eher Rousseau als Orwell; Kinder waren unschuldig, Geschenke Gottes, schon das Nachdenken darüber, dass auch sie Mörder sein könnten, wäre wider die Natur gewesen. Heutzutage wissen wir alle: zu jung zum Töten gibt es nicht. Ich war damals groß für einen Zwölfjährigen, ich hatte das Blut von jemand anderem in meinen Schuhen, die Pubertät ist eine seltsame, heikle Zeit. Plötzlich hatte ich wieder glasklar Cassies Gesicht vor Augen, an dem Tag, als sie von dem Gespräch mit Kiernan über seine Ermittlungen in dem Knocknaree-Fall zurückkam: Ich hatte ihr angesehen, dass sie mir etwas vorenthielt. Ich musste mich setzen.
»Jeder, den Sie irgendwann mal hinter Schloss und Riegel gebracht haben, kann einen neuen Prozess beantragen, auf der Grundlage, dass Sie in Ausübung Ihres Berufes wichtige Fakten unterschlagen haben. Glückwunsch, Ryan: Sie haben soeben jeden Fall vermasselt, mit dem Sie je zu tun hatten.«
»Dann bin ich wohl aus dem Fall raus«, stammelte ich schließlich. Meine Lippen fühlten sich taub an. Ich
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