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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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anschrie, und ich glaubte einen Moment lang, ich hätte ihre Stimme gehört. Ich war desorientiert in der dunklen schweren spätnächtlichen Stille. Und draußen schrie jemand, eine Frau oder ein Kind, wieder und wieder.
    Ich ging zum Fenster und zog vorsichtig den Vorhang einen Spalt auf. Der Wohnkomplex, in dem ich lebe, besteht aus vier identisch gebauten Mietshäusern um einen kleinen quadratischen Platz mit Rasen und ein paar Eisenbänken, wie sie von Städteplanern gern als »Erholungs- und Begegnungsraum« bezeichnet werden, obwohl kein Mensch sie je benutzt (das Paar im Erdgeschoss hatte ein paarmal spätabends dort draußen Cocktailpartys veranstaltet, aber die Nachbarn beschwerten sich über den Lärm, woraufhin die Hausverwaltung ein scharf formuliertes Verbotsschild im Foyer aufhängte). Die weißen Sicherheitslampen tauchten den Garten in ein unheimliches Nachtsichtgerätleuchten. Er war leer, und die schrägen Schatten in den Ecken waren zu niedrig, als dass sich dort jemand hätte verstecken können. Wieder ertönte der Schrei, hoch und markerschütternd und sehr nah, und ein urzeitliches Prickeln lief mir über den Rücken.
    Ich wartete, fröstelte ein wenig in der kühlen Luft, die von der Fensterscheibe abstrahlte. Nach ein paar Minuten bewegte sich etwas im Schatten, eine dunklere Kontur in der Dunkelheit, löste sich dann heraus und kam auf den Rasen: Es war ein großer Fuchs, wachsam und mager in seinem Sommerfell. Er hob den Kopf und schrie erneut, und einen Moment lang bildete ich mir ein, seinen wilden, fremden Geruch zu wittern. Dann trabte er über das Gras und verschwand durch das Tor, schlüpfte geschmeidig wie eine Katze zwischen den Stäben hindurch. Ich hörte, wie sein Kreischen sich entfernte.
    Ich war benommen und verschlafen und zugleich aufgekratzt von dem Adrenalinstoß, und ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Ich brauchte etwas Kaltes und Süßes. Ich ging in die Küche, um ein Glas Saft zu trinken. Heather hat manchmal Schlafstörungen, genau wie ich, und ich merkte, dass ich schon fast hoffte, sie wäre wach und wollte mir irgendwas vorjammern, aber ich sah kein Licht unter ihrer Tür. Ich goss mir ein Glas von ihrem Orangensaft ein und blieb lange vor dem offenen Kühlschrank stehen, hielt mir das Glas an die Schläfe und taumelte leicht in dem flackernden Neonlicht.

    Am Morgen goss es in Strömen. Ich schickte Cassie eine SMS, dass ich sie abholen würde – die Golfkarre streikt konsequent bei Regen. Als ich vor ihrer Wohnung hupte, kam sie in einem Dufflecoat und mit einem Thermobecher Kaffee zum Auto gelaufen.
    »Gott sei Dank war gestern nicht so ein Wetter«, sagte sie. »Sonst wären alle Spuren futsch gewesen.«
    »Sieh dir das an«, sagte ich und reichte ihr das Material zu Jonathan Devlin.
    Sie setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Beifahrersitz und las, reichte mir dann und wann den Kaffee rüber. »Erinnerst du dich an die Jungs?«, fragte sie, als sie fertig war.
    »Vage. Nicht gut, aber in der Siedlung waren sie schwer zu übersehen. Sie hatten einen ziemlich schlechten Ruf.«
    »Kamen sie dir gefährlich vor?«
    Ich überlegte ein Weilchen, während wir die Northumberland Road entlangkrochen. »Kommt drauf an, was du darunter verstehst«, sagte ich. »Wir hatten Angst vor ihnen, aber das lag hauptsächlich an ihrem Image, nicht, weil sie uns je irgendwas getan hätten. Eigentlich waren sie ganz nett zu uns. Und dass sie irgendwas mit dem Verschwinden von Peter und Jamie zu tun hatten, halte ich für abwegig.«
    »Wer waren die Mädchen? Wurden die auch vernommen?«
    »Welche Mädchen?«
    Cassie schlug Mrs Fitzgeralds Aussage auf. »Sie spricht von ›Herumpoussieren‹. Dazu gehören ja wohl irgendwelche Mädchen, würde ich sagen.«
    »Davon steht nichts in der Akte«, sagte ich.
    »Erinnerst du dich denn an welche?«
    Wir waren noch immer auf der Northumberland Road. Der Regen floss in solchen Bächen über die Windschutzscheibe, dass es aussah, als wären wir unter Wasser. Dublin ist für Fußgänger und Kutschen gebaut worden, nicht für Autos. Es ist voller verwinkelter, mittelalterlicher Sträßchen, die Rushhour dauert von morgens um sieben bis abends um acht, und bei dem ersten Anzeichen von schlechtem Wetter kommt der Verkehr in der ganzen Stadt zum Erliegen. Ich wünschte, wir hätten Sam eine Nachricht hingelegt.
    »Ich glaube, ja«, sagte ich schließlich. Es war eher ein Gefühl als eine Erinnerung: pudrige Zitronenbonbons,

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