Grabesgrün
»Sind Sie sicher, dass Sie bemerkt hätten, wenn ein Auto vorbeigefahren wäre?«, hakte ich nach.
»Ich hab ja sogar die Taschenlampe bemerkt.«
»Die Ihnen gerade erst wieder eingefallen ist«, stellte ich fest.
Seine Lippen kräuselten sich. »Ich hab ein prima Gedächtnis, danke. Ich hab’s nicht für wichtig gehalten. Wir reden hier schließlich von Montag nacht. Ich hab nicht mal sonderlich drauf geachtet, weil ich dachte, es wäre irgendwer auf dem Nachhauseweg oder einer von den Jugendlichen aus der Siedlung, der sich mit seinen Kumpels treffen wollte – die treiben sich manchmal nachts auf dem Gelände rum.«
In diesem Moment klopfte Bernadette, die Dezernatssekretärin, an die Tür des Vernehmungsraumes. Als ich aufmachte, sagte sie mit tadelnder Stimme: »Detective Ryan, Telefon für Sie. Ich hab gesagt, dass Sie nicht gestört werden können, aber sie meinte, es wäre dringend.« Bernadette arbeitet seit bestimmt fünfundzwanzig Jahren im Morddezernat, schon ihr gesamtes Berufsleben. Sie hat ein stures, hängendes Gesicht, fünf Arbeitsoutfits (eines für jeden Wochentag, was ganz praktisch ist, wenn man nicht weiß, welcher Tag ist) und ist, wie wir alle glauben, hoffnungslos in O'Kelly verliebt. Im Dezernat läuft eine Wette, wann die beiden endlich zueinander finden.
»Geh ruhig«, sagte Cassie. »Ich komm schon allein zurecht. Mark, wir müssen nur noch Ihre Aussage aufnehmen. Dann fahren wir Sie zurück zur Arbeit.«
»Ich nehm den Bus.«
»Nein, tun Sie nicht«, sagte ich. »Wir müssen nämlich Ihr Alibi überprüfen, und wenn Sie vorher Gelegenheit haben, mit Mel zu reden, bringt uns das nicht viel.«
»Ach verdammt nochmal«, zischte Mark und ließ sich auf dem Stuhl zurückfallen. »Ich hab das nicht erfunden. Da können Sie jeden fragen. Die haben schon darüber gelästert, noch ehe wir aufgestanden waren.«
»Keine Sorge, das werden wir«, sagte ich munter und ließ die beiden allein.
Ich ging in unseren SOKO-Raum und wartete ab, bis Bernadette den Anruf durchstellte, womit sie sich ziemlich lange Zeit ließ, um mir zu zeigen, dass es nicht ihre Aufgabe war, mich ans Telefon zu holen. »Ryan«, sagte ich.
»Detective Ryan?« Sie klang atemlos und schüchtern, aber ich erkannte die Stimme sofort. »Ich bin’s, Rosalind Devlin.«
»Rosalind«, sagte ich, klappte mein Notizbuch auf und suchte nach einem Stift. »Wie geht es dir?«
»Oh, ganz gut.« Ein kleines sprödes Lachen. »Ehrlich gesagt, nein, es geht mir nicht gut. Ich bin völlig fertig. Aber ich glaube, wir stehen alle noch unter Schock. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass so was passiert.«
»Nein«, sagte ich sanft. »Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Was kann ich für dich tun?«
»Ich hab gedacht ... meinen Sie, ich könnte mal zu Ihnen kommen und mit Ihnen reden? Wenn es keine Umstände macht? Ich wollte Sie etwas fragen.« Im Hintergrund war ein Auto zu hören; sie war irgendwo im Freien, telefonierte per Handy oder aus einer Zelle.
»Natürlich. Heute Nachmittag?«
»Nein«, sagte sie hastig. »Nein – nicht heute. Es ist so, sie müssten bald zurückkommen, sie sind zur Identifizierung der ...« Ihre Stimme erstarb. »Könnte ich morgen kommen? Irgendwann am Nachmittag?«
»Wann immer du möchtest«, sagte ich. »Ich geb dir meine Handynummer, dann kannst du mich jederzeit erreichen. Ruf mich einfach morgen an, dann treffen wir uns.«
Sie notierte sich die Nummer, murmelte die Zahlen halblaut vor sich hin. »Ich muss Schluss machen«, sagte sie eilig. »Vielen Dank, Detective Ryan. Vielen, vielen Dank«, und ehe ich mich verabschieden konnte, hatte sie schon aufgelegt.
Ich sah im Vernehmungsraum nach: Mark schrieb, und offenbar war es Cassie gelungen, ihn zum Lachen zu bringen. Ich tippte mit den Fingernägeln gegen die Scheibe. Marks Kopf flog hoch, und Cassie lächelte schwach in meine Richtung, verbunden mit einem knappen Kopfschütteln: Anscheinend kamen sie ganz gut ohne mich klar. Was mir nur lieb war. Sophie wartete bestimmt schon auf die Blutprobe, die wir ihr versprochen hatten. Ich klebte für Cassie ein »Bin gleich zurück«-Post-it an die Tür des Vernehmungsraumes und ging in den Keller.
Anfang der Achtziger war die Lagerung von Beweismitteln, vor allem bei alten, unaufgeklärten Fällen, nicht besonders ausgeklügelt. Peters und Jamies Kiste stand hoch oben auf einem Regal, und ich hatte sie noch nie heruntergeholt, aber ich wusste, dass darin alle Beweismittel sein
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