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Grabesgrün

Grabesgrün

Titel: Grabesgrün Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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mussten, die Kiernan und McCabe mit ihren Leuten gesammelt hatten. Es gab noch vier andere Kisten, die zu dem Fall gehörten, aber die trugen akkurat, fast kindlich beschriftete Etiketten: 2) Fragebögen 3) Fragebögen 4) Aussagen 5) Spuren. Ich zog die Hauptkiste herunter, wobei Staubflocken durch das grelle Licht der nackten Glühbirne tanzten, und stellte sie auf den Boden.
    Sie war halb mit durchsichtigen Beweismittelbeuteln gefüllt, auf denen eine dicke Staubschicht lag, sodass die Gegenstände darin eine sepiaartige Tönung hatten, wie geheimnisvolle Artefakte aus einer jahrhundertelang versiegelten Kammer. Behutsam nahm ich einen Beutel nach dem anderen heraus, pustete den Staub weg und legte sie in einer Reihe auf den Fliesenboden.
    Es war nicht viel, zumindest für einen so wichtigen Fall. Eine Kinderarmbanduhr, ein Wasserglas, ein matt orangefarbenes Donkey-Kong-Spiel, alles offenbar überzogen mit Fingerabdruckpulver. Verschiedene Materialproben, hauptsächlich trockene Blätter und Rindenstücke. Ein Paar weiße Sportsocken mit dunkelbraunen Flecken und exakt quadratischen Löchern drin, wo Testproben herausgeschnitten worden waren. Ein schmuddeliges weißes T-Shirt, verwaschene, abgeschnittene Jeans mit ausgefransten Nähten. Zu guter Letzt die Turnschuhe mit ihren kindlichen Abnutzungsspuren und dem steifen, schwarzen Innenfutter. Sie waren gepolstert, aber das Blut hatte sie fast komplett durchtränkt: Auf den Außenseiten hatten sich dunkle Flecken um die Nähte ausgebreitet, auf der Oberseite waren Spritzer und blassbräunliche Bereiche an den Stellen, wo es fast bis an die Oberfläche gedrungen war.
    Ich hatte mich so gut ich konnte innerlich für diesen Moment gewappnet. Wahrscheinlich hatte ich irgendwie geglaubt, der Anblick dieser Beweise würde eine dramatische Springflut an Erinnerungen auslösen. Ich hatte nicht unbedingt erwartet, am Ende in Embryonalhaltung auf dem Kellerboden zu liegen, aber ich hatte nicht ohne Grund einen Zeitpunkt ausgewählt, an dem vermutlich niemand nach mir suchen würde. Nun jedoch musste ich enttäuscht feststellen, dass mir nichts von dem ganzen Zeug auch nur annähernd bekannt vorkam, außer ausgerechnet Peters Donkey-Kong-Spiel, das vermutlich nur zum Abgleich von Fingerabdrücken benutzt worden war und eine kurze, aber nutzlose Erinnerung auslöste (wie Peter und ich auf einem sonnenbeschienenen Teppich sitzen und jeder einen der Knöpfe bearbeitet, konzentriert und mit Ellbogeneinsatz, während Jamie uns über die Schulter schaut und aufgeregt Befehle schreit), die aber so intensiv war, dass ich die herrischen Dudelund Piepstöne des Spiels wieder im Ohr hatte. Die Kleidung jedoch, die, wie ich wusste, von mir stammte, hätte ich ebenso gut zum allerersten Mal im Leben sehen können. Mir fiel nur auf, wie anrührend die Sachen aussahen – das kleine T-Shirt, die mit Kuli auf die Schuhspitze gemalte Micky Maus. Dabei war ich mir mit zwölf schon erschreckend erwachsen vorgekommen.
    Ich hielt den T-Shirt-Beutel mit Daumen und Zeigefinger hoch und drehte ihn um. Ich hatte von den Rissen auf dem Rücken gelesen, aber ich hatte sie noch nie gesehen, und irgendwie fand ich sie noch schockierender als diese grauenhaften Schuhe. Sie hatten etwas Unnatürliches an sich – diese vollkommenen Parallelen der flach geschwungenen Bögen. Eine krasse und unbestreitbare Unmöglichkeit. Äste?, dachte ich, während ich dumpf daraufstarrte. War ich von einem Baum heruntergesprungen oder hatte mich durch Büsche geschoben und mir dabei das T-Shirt an vier spitzen Zweigen gleichzeitig aufgerissen? Mir juckte der Rücken, zwischen den Schulterblättern.
    Plötzlich wollte ich unbedingt irgendwo anders sein. Die niedrige Decke löste klaustrophobische Gefühle aus, und die staubige Luft machte das Atmen schwer. Es war bedrückend still, nur gelegentlich vibrierten die Mauern bedrohlich, wenn draußen ein Bus vorbeifuhr. Ich warf hastig alles wieder zurück in die Kiste, hievte sie aufs Regal und schnappte mir die Schuhe, die ich auf dem Boden gelassen hatte, um sie Sophie zu schicken.
    Und erst jetzt, in diesem kalten Kellerraum, mit halb vergessenen Fällen überall um mich herum und dem leisen Knistern der Plastikbeutel, die wieder zur Ruhe kamen, wurde mir klar, was ich da Ungeheuerliches in Bewegung gesetzt hatte. Irgendwie hatte ich es versäumt, die Sache zu Ende zu denken. Da der alte Fall mir immer als meine Privatsache erschienen war, hatte ich völlig vergessen, dass

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