Grabesgrün
während des Angriffs ist Adam entkommen und zurück in den Wald gelaufen – was darauf hindeutet, dass sie entweder noch im Wald waren oder in einem der Häuser in der Siedlung, die direkt an den Wald grenzten, oder in einem der Farmhäuser in der Nähe. Ansonsten wäre er ja wohl nach Hause gerannt. Kiernan meint, der Kerl hat Panik gekriegt und die anderen beiden Kinder getötet. Möglicherweise versteckte er die Leichen dann bei sich im Haus, bis er Gelegenheit hatte, sie in den Fluss zu werfen oder in seinem Garten oder im Wald zu vergraben.«
Ich biss in mein Sandwich. Es schmeckte scharf und blutig, und ich musste beinahe würgen. Ich spülte es ungekaut mit einem großen Schluck Wein hinunter.
»Wo steckt der kleine Adam heute?«, erkundigte sich Sam.
Cassie zuckte die Achseln. »Ich glaub kaum, dass er uns irgendwas sagen könnte. Kiernan und McCabe haben ihn noch über Jahre immer wieder vernommen, aber seine Erinnerung kam nicht zurück. Schließlich haben sie’s aufgegeben. Die Familie ist dann weggezogen, und in Knocknaree munkelt man, sie wären nach Kanada ausgewandert.« Das alles war richtig, in gewisser Weise. Die Situation war schwieriger und zugleich lächerlicher, als ich gedacht hatte. Wir waren wie Spione, die über Sams Kopf hinweg in einem vorsichtigen, gestelzten Code miteinander kommunizierten.
»Die müssen doch wahnsinnig geworden sein«, sagte Sam. »Da gibt's einen Augenzeugen ...« Er schüttelte den Kopf und biss in sein Sandwich.
»Oh ja, Kiernan hat gesagt, dass es echt frustrierend war«, bestätigte Cassie, »aber der Junge hat sein Bestes getan. Er hat sogar bei einer Rekonstruktion der Ereignisse mitgemacht, mit zwei Kindern aus dem Ort. Sie hatten gehofft, er würde sich dann vielleicht erinnern, aber er war wie erstarrt, sobald er in den Wald kam.« Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte keinerlei Erinnerung mehr daran. Ich legte das Sandwich weg. Plötzlich brauchte ich dringend eine Zigarette.
»Armer kleiner Kerl«, sagte Sam sanft.
»Hat McCabe dasselbe gedacht?«, fragte ich.
»Nein.« Cassie leckte sich Senf vom Daumen. »McCabe dachte, der Mörder war ein Fremder – jemand, der nur für ein paar Tage da war, wahrscheinlich aus England, vielleicht um zu arbeiten. Wisst ihr, die hatten keinen einzigen echten Verdächtigen. Sie haben fast tausend Fragebögen durchgesehen, Hunderte Leute vernommen, sämtliche bekannten Perversen der Gegend unter die Lupe genommen, die Alibis aller Männer im Ort auf die Minute genau überprüft ... Ihr kennt das ja: Mindestens ein Verdächtiger springt dabei fast immer raus, selbst wenn es nicht für eine Festnahme reicht. Aber sie hatten niemanden . Jede Spur führte in eine Sackgasse.«
»Das kommt mir bekannt vor«, sagte ich finster.
»Kiernan meint, irgendwer hat dem Kerl ein falsches Alibi geliefert, weshalb er nie richtig auf ihrem Radar aufgetaucht ist, aber McCabe sah das wie gesagt anders. Er hatte die Theorie, die Kinder hätten am Fluss gespielt und wären bis zur anderen Seite des Waldes am Ufer langgelaufen. Das ist ziemlich weit, aber sie hatten das schon mal gemacht. An der Stelle führt eine kleine Landstraße direkt am Fluss entlang. McCabe vermutete, jemand ist im Auto vorbeigekommen, hat die Kinder gesehen und versucht, sie in den Wagen zu zerren oder zu locken. Adam hat sich gewehrt, konnte entkommen und ist zurück in den Wald gerannt, während der Kerl mit den anderen beiden davonfuhr. McCabe hat Interpol und die britische Polizei kontaktiert, aber die konnten ihm nicht weiterhelfen.«
»Dann gingen Kiernan und McCabe beide davon aus, dass die Kinder ermordet worden waren«, sagte ich.
»McCabe war sich anscheinend nicht sicher. Er glaubte, sie könnten auch entführt worden sein, vielleicht von einem psychisch Kranken mit pathologischem Kinderwunsch oder vielleicht ... Na ja. Zuerst hofften beide, die Kinder wären einfach nur weggelaufen, aber zwei Zwölfjährige ohne Geld? Die hätten sie innerhalb weniger Tage finden müssen.«
»Tja, Katys Mörder war auf jeden Fall kein zufällig vorbeikommender Tourist«, stellte Sam fest. »Er musste ein Treffen vereinbaren, sie einen Tag lang irgendwo aufbewahren ...«
»Ich glaube auch nicht«, sagte ich angenehm überrascht vom beiläufigen Ton meiner Stimme, »dass es sich bei dem alten Fall um eine spontane Entführung handelte. Soweit ich mich erinnere, wurden dem Kind die Schuhe erst wieder angezogen, als das Blut darin schon anfing zu gerinnen.
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