Grabesgrün
Der Entführer muss also eine gewisse Zeit mit allen dreien verbracht haben, irgendwo in der Nähe, ehe dem Jungen die Flucht glückte. Ich finde, das hört sich ganz nach einem Einheimischen an.«
»Knocknaree ist klein«, sagte Sam. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass da gleich zwei Kindermörder leben?«
Cassie stellte ihren Teller auf den gekreuzten Beinen ab, verschränkte die Hände im Nacken und reckte sich. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Plötzlich begriff ich, dass der Nachmittag mit Kiernan sie erschüttert hatte und dass sie vielleicht nicht nur meinetwegen gezögert hatte, die Geschichte zu erzählen. Es gibt da in ihren Mundwinkeln eine kleine Vertiefung, die nur zu sehen ist, wenn sie etwas verschweigt, und ich fragte mich, was Kiernan ihr erzählt haben mochte, das sie nicht sagen wollte.
»Die haben sogar die einzelnen Bäume abgesucht, könnt ihr euch das vorstellen?«, sagte sie. »Nach ein paar Wochen erinnerte sich ein cleverer Mitarbeiter der SOKO an einen alten Fall, wo ein Junge auf einen Baum geklettert und in den hohlen Stamm gefallen war. Kiernan und McCabe ließen jeden Baum überprüfen, jeden Hohlraum ausleuchten. Kiernan träumt immer noch davon ...«
Ihre Stimme erstarb, und wir schwiegen. Sam verspeiste sein Sandwich ruhig und genüsslich, stellte dann den Teller weg und seufzte zufrieden. Schließlich streckte Cassie eine Hand aus. Ich legte ihre Zigarettenpackung hinein. Das Feuer knackte und fauchte laut. Ich sah es aus den Augenwinkeln und fuhr herum. Ich war sicher, dass ich etwas aus dem Feuer ins Zimmer hatte springen sehen, doch da war nichts. Als ich mich wieder umdrehte, ruhten Sams Augen auf mir, grau und still und irgendwie mitfühlend, aber er lächelte bloß und beugte sich über den Tisch, um mir nachzuschenken.
Ich konnte schlecht schlafen, auch wenn ich mal Gelegenheit dazu hatte. Das geht mir oft so, wie schon gesagt, aber diesmal war es anders: In jenen Wochen steckte ich irgendwie in einem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen und konnte mich weder zum einen noch zum anderen zwingen. »Vorsicht!«, sagten plötzlich Stimmen laut in meinem Kopf. Oder: »Ich versteh dich nicht. Was? Was?« Im Halbschlaf sah ich Eindringlinge durchs Zimmer schleichen, die meine Arbeitsnotizen durchsahen oder die Hemden in meinem Schrank befingerten. Einmal wachte ich auf und stand neben meiner Schlafzimmertür an die Wand gelehnt, grapschte wie verrückt nach dem Lichtschalter und konnte mich kaum noch aufrecht halten. Mir drehte sich alles, und von irgendwo kam ein gedämpftes Stöhnen, und es dauerte lange, bis ich begriff, dass das meine eigene Stimme war. Ich machte das Deckenlicht und die Nachttischlampe an und kroch zurück ins Bett, lag dann da, zu verstört, um wieder einzuschlafen, bis mein Wecker losging.
Am Samstag rief Rosalind mich auf dem Handy an. Ich war im SOKO-Raum. Cassie war bei der Vermisstenstelle, hinter mir schimpfte O’Gorman über irgendeinen Typen, der sich bei den Hausbefragungen in der Nachbarschaft ihm gegenüber unverschämt benommen hatte. Ich musste das Telefon ans Ohr pressen, um sie verstehen zu können. »Detective Ryan, ich bin’s, Rosalind ... Entschuldigen Sie die Störung, aber meinen Sie, Sie hätten vielleicht Zeit, herzukommen und mit Jessica zu sprechen?«
Stadtgeräusche im Hintergrund: Verkehr, laute Stimmen, der hektische Signalton einer Fußgängerampel. »Na klar«, sagte ich. »Wo seid ihr?«
»In der Stadt. Könnten Sie in zehn Minuten in der Bar vom Central Hotel sein? Jessica möchte Ihnen was erzählen.«
Ich blätterte rasch in der Akte, um Rosalinds Geburtsdatum zu finden. Wenn ich mit Jessica reden wollte, musste eine »geeignete volljährige Person« anwesend sein. »Sind eure Eltern bei euch?«
»Nein, ich ... nein. Jessica fällt es ohne sie leichter zu reden, wenn das in Ordnung ist.«
Meine Antennen begannen zu summen. Ich hatte die Seite mit den Familiendaten gefunden: Rosalind war achtzehn und, wie ich fand, auch geeignet. »Kein Problem«, sagte ich. »Bis gleich.«
»Danke, Detective Ryan, ich wusste, dass ich mich an Sie wenden kann. Es tut mir leid, wenn ich Sie so zur Eile dränge, aber wir müssen wieder zu Hause sein, bevor –« Ein Piepton, und sie war weg: Entweder der Akku oder ihre Paycard war leer. Ich schrieb Cassie einen Zettel – »Bin kurz weg« – und ging.
Rosalind hatte einen guten Geschmack. Die Central Bar ist standhaft altmodisch – Stuck an der Decke,
Weitere Kostenlose Bücher