Grabeskaelte
was ihre Tochter im Laufe der Jahre schrieb, gelesen hatte. Auch für sie war das, was ihre Tochter oben unterm Dach trieb, pure Zeitverschwendung. „Wie oft hab ich gesagt, Mädel lass den Unfug. Das ist eine brotlose Kunst. Such dir lieber was Vernünftiges. Aber Cora war schon immer dickköpfig. Ich glaube je mehr ich auf sie einsprach, umso verbissener wurde sie.“
Henning konnte es nicht fassen. Einerseits weinte Senta Glaser um ihr Kind, andererseits schien sie sich zu Coras Lebzeiten nie ernsthaft darum bemüht zu haben, ihre Tochter zu verstehen, sie so anzunehmen, wie sie nun einmal war. Henning hatte selbst keine Kinder. Aber er war bisher immer davon ausgegangen, dass es zwischen einem Kind und seiner Mutter so etwas wie einen sechsten Sinn geben musste. Seine Mutter hatte jedenfalls immer gleich bemerkt, wenn etwas nicht stimmte. Er konnte sich noch so sehr anstrengen. Sie hatte ihn noch stets durchschaut. Auch wenn sie seine Ansichten oft nicht teilen konnte, so hatte sie sich doch darum bemüht, sie zu respektieren. Wussten Ralph und seine Schwiegermutter denn nicht, wie sehr sie Cora mit ihrem Desinteresse verletzten, ihr Selbstvertrauen Stück für Stück zerstörten? Aber Senta Glaser schien sich keinerlei Schuld bewusst. Obwohl sie ihre Tochter fast täglich sah, sie wohnte schließlich nur einige Häuser weiter, schien sie eine Fremde für sie zu sein. Selbst bei der Erstellung einer Liste ihres Freundeskreises konnte sie nicht allzu viel beitragen.
„Mir fällt da nur Roman ein, Roman Caspari, Coras Patenonkel. Er hat sich viel um Cora gekümmert. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn gemacht hätte. Vor allem nach dem tragischen Tod meines Mannes haben er und seine Frau sich hingebungsvoll um Cora bemüht.“
Nach einer kurzen Pause setzte sie leise hinzu: „Sie müssen wissen, dass es mir damals sehr schlecht ging. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch und lag für längere Zeit in einer Klinik. Ich weiß nicht was aus Cora geworden wäre, wenn die beiden sich ihrer nicht angenommen hätten. Roman war wie ein Vater zu ihr, hat ihr sogar Nachhilfestunden in Mathematik gegeben. Während meines Klinikaufenthalts wohnte sie auch eine Zeitlang dort. Roman hat Cora vergöttert und auch sie hing sehr an ihm. Als Henriette, seine Frau, dann starb, hat sich Cora ganz selbstverständlich um ihn gekümmert. Sie hat für ihn eingekauft und die Wirtschaft geführt. Sie ging bei ihm ein und aus wie eine Tochter.“
Stillschweigend hörte Henning zu. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hatten die beiden ein sehr inniges Verhältnis zueinander. Wäre es da nicht möglich, dass dieser Roman etwas gewusst haben könnte?“
„Schwer zu sagen. Mir gegenüber hat er jedenfalls nie etwas Derartiges erwähnt. Am besten Sie fragen ihn selbst. Er wohnt nicht weit von hier.“
Der Kommissar notierte sich die Adresse.
„Ich werde ihn aufsuchen, darauf können Sie sich verlassen. Fällt Ihnen sonst noch jemand ein? Ich meine, sie muss doch noch weitere Freunde gehabt haben.“
Die Liste der zusammengetragenen Namen fiel spärlich aus. Henning würde nicht lange damit zu tun haben, sie alle zu befragen. Im weiteren Verlauf des Gesprächs brachte Henning auch die Sprache auf den unter Coras Schreibtisch gefundenen Zeitungsartikel.
„Und ob ich mich an diesen furchtbaren Mordfall erinnere!“, ereiferte sich Coras Mutter. Sie schien sichtlich erleichtert zu sein, endlich eine der von Henning gestellten Fragen erschöpfend und zu dessen Zufriedenheit beantworten zu können.
„Kirstin Liebermann ging zusammen mit Cora in eine Klasse. Das Mädchen war, wie soll ich sagen, etwas gewöhnlich für meine Begriffe. Ich habe es daher auch gar nicht gerne gesehen, wenn meine Tochter sich mit ihr abgab. Kirstins Tod hat Cora sehr betroffen gemacht. Sie hat tagelang nichts gegessen, war in sich gekehrt und als ich mit ihr darüber sprechen wollte, weil ich mir Sorgen um sie machte, da hab’ ich wieder einmal kein Wort aus ihr herausbekommen.“
Gedankenverloren schüttelte Senta Glaser den Kopf und fuhr fort: „Das war aber auch eine schreckliche Geschichte. Vor allem die Sache mit dem Herz. In unserer Stadt ist bis dahin noch nie so etwas Grauenvolles passiert, müssen Sie wissen. Mal ein Einbruch, auch schon mal ein Überfall, aber Mord? Das war wirklich unheimlich. Kirstin war doch schließlich noch ein halbes Kind! Wir haben damals alle in Angst und Schrecken gelebt.“
„Wissen Sie zufällig noch, wer
Weitere Kostenlose Bücher