Grabeskaelte
in seinem Briefkasten fand. Sie hatte folgenden Wortlaut: Ich habe gesehen, was du mit Kirstin angestellt hast. Das war ekelhaft. Eigentlich müsste ich dich Schwein anzeigen. Aber dann habe ich mir die Sache noch einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Ich habe nämlich das Geld gesehen. Da ich nie wirklich welches hatte, habe ich mir überlegt, dass wir eigentlich einen Deal abschließen könnten: Mein Schweigen gegen dein Geld. Ich dachte an zehntausend Mark. Das müsste es dir doch wert sein, dich vorm Knast zu bewahren, oder? Wenn du schlau bist, dann siehst du das genauso. Deshalb schlage ich vor, wir treffen uns Dienstagabend gegen zweiundzwanzig Uhr. Ich gehe mal davon aus, dass du die leer stehende Laube in der Gartenkolonie „Frühauf“ kennst. Dort erwarte ich dich. Das Geld hätte ich gerne in kleinen Scheinen. Ich muss dir wohl nicht erst klarmachen, welche Konsequenzen es für dich hätte, wenn du nicht zum verabredeten Treffen kommst. Unterzeichnet war der Brief mit Hannes Lambrecht.
Der alte stinkende Penner, dachte er verächtlich, hatte sich einfach so herangeschlichen und ihn beobachtet. Wie konnte ihm nur ein solcher Fauxpas unterlaufen. Er wog sich in Sicherheit, dabei hätte er es besser wissen müssen. Zuerst verfiel er in Panik. Doch nach einer schlaflosen Nacht wusste er, das Hannes Lambrecht ihm mit seinem Drohbrief einen unbezahlbaren Gefallen erwiesen hatte. Sein Plan, den beiden nächtlichen Friedhofsbesuchern Kirstins Mord anzuhängen geriet von Tag zu Tag mehr ins Wanken. Um jedweden Verdacht von sich abzulenken, brauchte er dringend einen neuen Tatverdächtigen. Dieser Mann, das ging ihm in jener Nacht wie eine Offenbarung auf, war Hannes Lambrecht. Ihn zum Schweigen zu bringen und ihm gleichzeitig den Mord an Kirstin in die Schuhe zu schieben, würde ein Kinderspiel sein.
Mit einem Koffer voller Scheine erschien er zur angegebenen Zeit bei Hannes und erfüllte somit zunächst dessen Forderungen. Danach ging alles ziemlich schnell. Den ersten unachtsamen Augenblick nutzend, drückte er Hannes von hinten einen in Chloroform getauchten Wattebausch unter die Nase. Als dieser ohnmächtig zusammensackte, legte er ihm eine Schlinge aus Hanf um den Hals, zog sie zusammen, schlang den restlichen Strick um einen Deckenbalken und zog solange daran, bis Hannes Beine den Kontakt zum Boden verloren hatten. Der bewusstlose Körper zuckte noch ein paar Minuten, bevor er leblos erschlaffte. Daraufhin verknotete er das Seilende am Balken, schmiss einen Schemel neben Hannes Füße – schließlich sollte alles nach Selbstmord aussehen – und drückte ihm einen von ihm verfassten Abschiedsbrief, in dem Hannes seine Schuld am Tod Kirstins bekannte, in die Hand. Den Brief hatte er, nachdem er Hannes krakelige Handschrift eingehend studiert und nachzuahmen versucht hatte, verfasst. Er war davon überzeugt, dass ihm seine Täuschung abgenommen würde, und er sollte Recht behalten. Wieder einmal war es ihm gelungen seine Haut zu retten. Als weiteres Indiz für Hannes Schuld deponierte er Kirstins in Spiritus konserviertes Herz unter dessen Bett. Bald darauf galt der Fall als gelöst und die Ermittlungen wurden eingestellt. Die ganze Angelegenheit hätte sich nicht besser für ihn fügen können und dennoch war ihm ein Fehler unterlaufen. Jahrelang ahnte er nichts davon und fast wäre es zu spät gewesen, ihn wieder gutzumachen …
12
Nach einem erholsam verbrachten Tag auf dem Wasser hatte Rüdiger für den Abend noch etwas ganz besonderes in petto. „Wirf dich in Schale“, sagte er zu seinem Freund. „Ich habe uns einen Tisch bestellt. Wo, wird nicht verraten. Das soll eine Überraschung sein.“
Henning der erfreut feststellte, dass Rüdiger sein morgendliches Stimmungstief überwunden hatte, tat wie ihm geheißen. Ein herbwürziger Duft umgab ihn als er zwanzig Minuten später frisch rasiert, mit Anzug, weißem Seidenhemd und Schlips bekleidet aus seinem Zimmer trat.
Sie fuhren mit der Straßenbahn ins Zentrum. Am Hauptbahnhof stiegen sie aus. Es war kurz nach achtzehn Uhr, als sie den Sachsenplatz erreichten. Rüdiger der sich noch immer in Schweigen bezüglich des von ihm angesteuerten Zieles hüllte, übernahm die Führung. An den Fassaden alter Bürgerhäuser vorbei, schlug er den Weg Richtung Katharinenstraße ein. Um sie herum pulsierte der Verkehr. Entgegen anders lautender Meinungen gewann Henning den Eindruck, dass die Stadt erst so richtig erwachte, wenn der Tag in den Abend
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