Grabesstille
Hälfte meines linken Beins, und ich erreiche die Tür noch als Erster.«
»Kommen Sie mir nicht so«, erwiderte ich. »Sie haben trainiert. Und ich habe bei Ihnen dieses Zeug über die Paralympics gelesen – jemand mit einem dieser Flex-Foot-Füße war nur vier Sekunden langsamer als einer der Rekorde von Carl Lewis.«
»Mein Oberkörper ist wesentlich kräftiger als vor der Operation«, bestätigte er, »aber ich jogge nicht jeden Tag wie Sie. Außerdem – auch wenn Sie sich noch so sehr wünschen, dass ich mit einem einzigen kunstvollen Satz über hohe Gebäude springe, wir sind nicht alle Super Amp, wissen Sie.«
»Super Amp hin oder her, Sie schöpfen nicht einmal ansatzweise Ihr ganzes Potenzial aus, streiten Sie das bloß nicht ab«, sagte ich. »So lange ist es auch noch nicht her, wissen Sie.«
»Ich weiß«, räumte er ein und blieb stehen. Er machte eine kleine, höfliche Verbeugung, als ich bei ihm anlangte, und sagte: »Bitte nach Ihnen. Trödeln Sie, solange Sie wollen. Das nützt Ihnen auch nichts.«
Ich kam zu einer Ecke und blieb stehen. »Okay. Von hier aus kann ich die Tür sehen.«
»Sie wollen nicht vielleicht hingehen und sie aufmachen?«, fragte Ben. »Vielleicht steht auf der anderen Seite der Raucher mit einem Parabolmikrofon.«
»Hören Sie«, sagte ich. »Wollen Sie die ungeschminkte Wahrheit hören? Ich bin nicht besonders scharf darauf, diesen Morgen mit Parrish noch einmal zu durchleben.
Manchmal glaube ich, wenn ich seine Visage noch einmal sehen muss …«
Ich beendete den Satz nicht, da die Tür zum Dach aufging.
»Mist«, sagte Ben. »Sie hatten wohl Recht mit dem Nikotinanfall.«
Doch selbst mit den blonden Haaren, selbst auf die Distanz und selbst in der Finsternis, wusste ich, wer aufs Dach gekommen war.
Es waren weder Jerry noch Leonard.
Ich zog Ben um die Ecke zurück und hätte ihn fast umgeworfen.
»Was soll –«
Ich legte ihm die Hand auf den Mund. »Parrish!«, flüsterte ich. »Laufen Sie!«
Voller Panik sah er mich an und fragte: »Wohin?«
Gute Frage.
58
MITTWOCH, 27. SEPTEMBER, 1 UHR 35
Dach des Wrigley-Buildings
»Hier wieder zurück!«, flüsterte ich, und wir rannten schnell in den dunklen und engen Irrgarten aus Dachaufbauten, bogen um eine und noch eine Ecke und versteckten uns dann hinter der Klimaanlage.
Ich hoffte, dass sich Parrish zum offeneren Ende des Dachs herauswagen würde, damit wir zur Tür zurückkonnten.
Wir vernahmen Geräusche, doch es war schwer zu sagen, woher sie kamen.
»Wir sollten uns trennen«, sagte Ben. »Er ist allein. Er kann uns nicht beide jagen.«
»Es sei denn, er hat seinen Helfer mitgebracht.« Ich sah eine Leiter an einer Wand in der Nähe stehen, die für den Zugang zu den Fahnenmasten benutzt wurde. »Warten Sie hier«, sagte ich. Ich huschte zu der Leiter hinüber, kletterte so weit hinauf, wie ich es wagte, und spähte vorsichtig in die schmale Gasse hinab, durch die wir soeben gekommen waren. Hinter unserer Gasse, aber nicht weit von deren Anfang entfernt, sah ich etwas Merkwürdiges, das zu begreifen mich eine Weile kostete: ein einzelnes Licht, das sich langsam vorwärts bewegte und in einiger Höhe über dem Fußboden entlang schwankte. Dann erkannte ich, was es war: Parrish hatte eine Stirnlampe aufgesetzt, ein Leuchtmittel, das es ihm erlauben würde, die Hände frei zu haben – frei für Dinge, an die ich gar nicht denken mochte.
Ich sah nur lange genug zu, um eines festzustellen, dann eilte ich zu Ben zurück.
»Soweit ich es beurteilen kann, ist er allein. Er muss jede Minute diese Gasse entlangkommen. Aber ich finde nicht, dass wir uns trennen sollten, bevor wir unbedingt müssen.«
»Okay«, flüsterte er.
Da klingelte das Handy, schrill und laut. Es hätte mir ebenso gut einen elektrischen Schlag versetzen können.
Ich fluchte und fingerte daran herum, um den Anruf entgegenzunehmen. Es klingelte ein zweites Mal, und Ben lief eilig davon. Ich konnte seinen Wunsch nachfühlen, sich von einer Frau zu entfernen, die ein Peilgerät für Parrish am Leib trug.
»Egal, wer Sie sind«, sagte ich in das Telefon, während ich in die Gegenrichtung davonlief, »rufen Sie die Polizei!«
»Irene?«, sagte eine Männerstimme. Bekannt, aber wer war es?
Ich bog um eine Ecke und hörte Schritte. Gebückt hastete ich in eine weitere enge Gasse und rannte wie verrückt. »Verdammt noch mal, wer auch immer Sie sind, legen Sie auf und rufen Sie die Polizei. Sagen Sie ihnen, Nick Parrish ist
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