Grabesstille
nachdem er mir erklärt hatte, dass jeder, der direkt neben dem Grab stand, eine tragen müsse. Ich stülpte mir meine über den Kopf, doch da ich wusste, wie beengend sie sich anfühlen würde, zog ich sie noch nicht über Mund und Nase.
David musterte mich und sagte ruhig: »Das wird nicht besonders hübsch. Haben Sie schon mal eine verweste Leiche gesehen?«
»Ja.«
»Das hier wird vermutlich schlimmer. Viel schlimmer. Ich schätze, dass es auch für die Cops schlimm wird, denn obwohl sie immer wieder entsetzliche Dinge zu sehen bekommen, sind die Leichen, mit denen sie zu tun haben, meist doch – na ja, frischer. Nur selten so verfault.« Er machte eine Pause und sagte dann: »Wenn Sie sich übergeben müssen, laufen Sie um Gottes willen so weit von der Fundstelle weg wie möglich.«
Als er meinen betretenen Blick sah, fügte er hinzu: »Ben hasst den Geruch von Kotze.«
Ich lachte, wodurch ich mich gleich besser fühlte, und erklärte ihm, dass ich mir vermutlich etwas anderes ausdenken würde, um mich an Dr. Sheridan zu rächen.
Er schmunzelte. »Sie stehen’s schon durch.«
Doch als das Plastik erst mit einem Iförmigen Schnitt durchtrennt und dann – mit knisterndem Geräusch – auseinander geklappt wurde, war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich es durchstehen würde. Ich hielt mich aufrecht, indem ich mich zwang, mir diese seltsame Masse – die unförmige Gestalt, die an manchen Stellen aus Knochen, an anderen wiederum aus Haaren, Flüssigkeit oder lederartigem Gewebe bestand –, die seltsame Figur, die vor mir lag, als etwas vorzustellen, das untersucht werden musste, etwas, das vielleicht ein Geheimnis verraten würde.
Aber trotzdem konnte ich keine kalte Beobachterin sein. Vielleicht funktionierten ja die viel beschworenen Tricks, mit denen man seinen Verstand von der menschlichen Natur des Opfers trennen konnte, bei irgendjemandem der anderen hier, aber nicht bei mir. Als ich die Gesichter von Ben und David musterte, die Vergleichbares schon oft gesehen hatten, fiel mir auf, dass ich dort keinerlei Kälte vorfand, sondern lediglich ruhiges Mitgefühl. Vielleicht empfanden sie wie ich: Trotz des verzerrten Aussehens der Überreste konnte kein Zweifel daran bestehen, dass das hier ein Mensch gewesen war, eine Person, und auch wenn ihr Schicksal schrecklich gewesen war, so würde es doch nicht verborgen bleiben.
Ben ertappte mich dabei, wie ich ihn musterte, oder so schien es mir zumindest, bis mir klar wurde, dass das Umgekehrte zutraf: Er hatte mich rasch gemustert und die anderen ebenso.
»Mr. Burden, sind Sie in der Lage weiterzumachen?«, fragte er den Fotografen, dessen Gesicht jegliche Farbe verloren hatte.
»Mr. Burden?«, fragte Ben noch einmal.
Flash riss seinen weitäugigen Blick von den Gebeinen und sah zu Ben auf. »Ja, Sir«, antwortete er mit bebender Stimme.
»Die Kamera?«, drängte ihn Ben sachte.
Flash sah erstaunt zu seiner rechten Hand hinunter. Irgendwann hatte er die Videokamera von seinen Augen herabsinken lassen, sodass sie nun schlaff an seiner Seite hing.
»Ja, ich fange gleich wieder mit dem Aufnehmen an«, sagte er ein bisschen gefasster und nahm die Kamera hoch.
»J. C. machen Sie jetzt die Notizen?«, fragte Ben.
»Ja«, antwortete der Ranger, ebenfalls mit unsicherer Stimme.
»Dann fangen wir mal an.« Ben nannte Datum und Uhrzeit sowie die anwesenden Personen und gab die Koordinaten für das Grab an. Während er diese Daten ruhig aufzählte, spürte ich, wie sich meine Nerven beruhigten, merkte, wie der erste Schock über den Anblick vor mir abklang. Erneut versuchte ich, die Gebeine zu betrachten.
Die Leiche lag mit dem Gesicht nach oben. Ihre Unterseite war, soweit ich es sehen konnte, eine schleimige Masse. Die Oberseite war zum Teil Mumie, zum Teil Skelett und zum Teil Wachsfigur – Letzteres lag, wie man mir erklärte, an der Bildung von Adipocire, einer seifenartigen Substanz, die in einer der Zersetzungsphasen entsteht.
»Diese Beobachtungen sind vorläufig«, erklärte Ben, »und müssen noch im Labor erhärtet werden. Wir haben eine unbekannte, erwachsene Frau von europäischer Herkunft vor uns. Alter und Statur müssen noch ermittelt werden. Kleidung ist nicht zu sehen. Ihre Lage ist rücklings mit leicht ausgestreckten Armen. Der Kopf der Betreffenden zeigt entlang einer Ost-West-Linie nach Westen. Ihre Haare sind dunkelbraun.« Er hielt inne und sagte dann: »Gehen Sie bitte auf die linke Hand, Mr. Burden … Die Tote trägt einen Ring
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