Grabesstille
Weitergehen bereit waren. Wir erhoben keine Einwände. Anscheinend hatte sich eine Grenze verschoben. Nachdem ich gerade Fotos davon gesehen hatte, wie Parrish heißes Wachs in das Ohr seines Opfers goss, war ich nicht in der Stimmung, mich für seine Bürgerrechte einzusetzen.
Den ganzen Tag war Parrish auf zunehmende Feindseligkeit und Abscheu gestoßen. Zwar beherrschten die meisten ihren Groll, aber niemand wollte in seiner Nähe sein.
Ich sah zu dem Leichensack hinüber, der ins Lager gebracht worden war und jetzt nahe bei uns lag. J. C. saß direkt daneben und wechselte sich mit den anderen in seiner Bewachung ab. David hatte mir erklärt, dass die Leiche von jetzt an, bis sie im Labor anlangte, stets bewacht werden würde – nicht nur vor Parrish, dem sein Wunsch, sie zu sehen, abgeschlagen worden war, sondern auch vor allen möglichen Tieren, die der Geruch womöglich anziehen könnte. »Und natürlich ist sie Beweismaterial«, sagte er. »Also müssen wir imstande sein, jede Minute, die sie sich in unserer Obhut befindet, für sie zu garantieren.«
Trotzdem war ihre Nähe belastend. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie mein Blick zu ihr hinüberwanderte. Ich versuchte krampfhaft, auf andere Gedanken zu kommen, doch schon nach wenigen Minuten dachte ich wieder an den Sack und seinen Inhalt.
Duke, der an einem kleinen Holzpferdchen für seinen Enkel schnitzte, hielt immer wieder inne und sah zu dem langen, schwarzen Sack hinüber. Dann widmete er sich mit doppeltem Eifer wieder seiner Arbeit.
Ich bemerkte, dass auch die anderen häufig nach der Leiche sahen.
David fing mit den Clownerien an. Es begann beim Essen, während Ben neben der Trage Wacht hielt. David gab Bingle den Befehl, einen Kopfstand zu machen, was der Hund auch versuchte – allerdings ohne die Hinterbeine zu heben. Der Hund sah nicht nur lächerlich aus, wie er den Kopf umgekehrt auf den Boden legte und die Vorderpfoten flach daneben presste, sondern er »redete« auch die ganze Zeit, indem er halb jaulende, halb bellende Laute von sich gab. Alle bogen sich vor Lachen.
David sagte: »Bien« , und Bingle hob den Kopf wieder, sah mit diesem Grinsen, das Hunde manchmal aufsetzen, in die lachende Runde, wedelte mit dem Schwanz und schien sich gemeinsam mit uns an dem Spaß zu erfreuen.
Das war der Auslöser für zahlreiche Hundegeschichten, gefolgt von mehreren Anekdoten über Polizei und Gerichtsmedizin und einem Reigen bizarrer Mordgeschichten. Der Humor war oft schwarz, und die meisten Geschichten würden, das wusste ich, niemals vor Personen zum Besten gegeben werden, die in den Augen dieser Gruppe als Zivilisten galten.
Mir fiel auf, dass die Anekdoten und Witze nie in Zusammenhang mit der Arbeit des heutigen Tages oder dem Opfer standen – Themen, die aufgrund einer unausgesprochenen Abmachung tabu waren – und dass sie Ben allesamt nicht mehr als ein müdes Lächeln abnötigten.
Lange bevor die meisten anderen bettreif waren, zog ich mich zurück. Und nun saß ich da und fragte mich, ob ich den Verwesungsgeruch je wieder aus den Haaren und von meiner Haut bekommen würde und ob mich ein weiterer Tag, den ich in der Nähe der Leiche verbrachte, für immer mit dem Geruch des Todes brandmarken würde.
Ich hörte Schritte im Gras und zuckte zusammen.
»Ms. Kelly«
Erleichtert seufzte ich auf. »Sie haben mich zu Tode erschreckt, Dr. Sheridan.«
»Oh.« Er schwieg einen Moment. »Das tut mir Leid.«
Es musste ihn fast umgebracht haben, das zu sagen.
Er trat ein wenig näher. »Ms. Kelly, Sie sind mit einem Detective der Mordkommission verheiratet, stimmt das?«
»Ja. Frank Harriman. Er ist bei der Polizei von Las Piernas.«
»Dann verstehen Sie wahrscheinlich … dann haben Sie ihn wahrscheinlich auch schon Geschichten oder Witze über bestimmte Dinge erzählen hören …«
»Dr. Sheridan, ich habe ihn nicht nur solche Witze erzählen hören, ich habe sogar selbst mit ihm derartige Witze gemacht. Wenn Sie glauben, ich würde die Ereignisse rund um das Lagerfeuer falsch einschätzen, dann irren Sie sich. Aber das scheint ja eine Spezialität von Ihnen zu sein.«
Langes Schweigen war die Folge.
»Sie schütteln nur die Spannung ab«, sagte ich. »Das weiß ich. Unter diesen Umständen ist das vermutlich das Gesündeste, was Sie tun können.«
»Ja«, sagte er ruhig.
»Ich weiß, dass ich in Ihren Augen nicht derselben Spezies angehöre wie Sie, sondern eine Art gefühllose Lebensform bin, die ein bisschen später als
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