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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Burke
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wusste, wie er mit ihnen umzugehen hatte. Das hatte er schon mehrmals bewiesen. Harvey war eines seiner ersten Opfer gewesen. Er fragte sich beiläufig, ob sie ihn eigentlich je gefunden hatten. Es war schon viele Jahre her, seit er Harveys Grab besucht hatte, und als ihm dies bewusst wurde, empfand er einen Moment lang Reue – natürlich nicht, weil er Harvey umgebracht hatte, sondern weil er es nicht geschafft hatte, seine festgelegten Rundgänge zu absolvieren.
    Wie eine Lieblingsgeschichte, die man wieder und wieder gelesen hat, hatte der Gedanke an den Mord an seinem Kindheitsfeind schon lange die Macht verloren, ihn zu erregen, doch deshalb war ihm die Erinnerung daran nicht weniger lieb. Wenn er die alten Begräbnisstätten besuchte, wurde ihm manchmal ganz nostalgisch zumute, und er wollte sie auf keinen Fall ignorieren. Er zollte ihnen seinen Respekt, der allerdings im Grunde ihm selbst galt. Diese Vorstellung amüsierte ihn.
    Ah, dieser kleine, lustige Moment genügte, um die Spannung ein wenig zu lockern.
    Er kehrte zu seinen sehr detaillierten Erinnerungen an diesen Nachmittag zurück und stand kurz davor, zu seinem Lieblingsmoment zu kommen. Ja, da war sie, blass und ein bisschen müde wirkend – sie schlief zur Zeit nicht gut. Er hätte gerne geglaubt, dass er der Grund für ihre nächtliche Ruhelosigkeit war, aber am ersten Abend hatte er die Geräusche eines ihrer Albträume gehört, und er wusste, dass ein anderer Schrecken sie heimsuchte. Das war in Ordnung. Er würde ihre Angst dorthin lenken, wohin sie gehörte, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war. Fürs Erste reichte es, die dunklen Ringe unter ihren blauen Augen zu sehen, zu sehen, wie ihr das Haar übers Gesicht fiel, wenn sie beim Gehen kurz nach unten blickte.
    Sie kam jetzt näher, immer näher und – o ja! Sie hatte den Geruch. Er hatte tief eingeatmet, als sie an ihm vorbeiging, hatte ihren Duft und den Duft der Toten zusammen gerochen, vermischt und herrlich, herrlich, herrlich. Der Gedanke daran ließ ihn erbeben.
    Ach, es war so richtig, so wundervoll! Die Vorfreude summte durch ihn wie elektrischer Strom. Alles klappte wie am Schnürchen, und da alles wie am Schnürchen klappte, konnte er ohne weiteres stillhalten, auf dem Rücken in diesem Zelt liegen und einfach sein eigenes Blut durch die Adern strömen fühlen, während jeder Nerv unter der Macht seines Verlangens vibrierte.
     

15
     
    DONNERSTAG, 18. MAI, FRÜHER MORGEN
    Bergland der südlichen Sierra Nevada
     
    Der Regen ließ bis vor Sonnenaufgang am nächsten Morgen auf sich warten. Er war weder heftig noch gleichmäßig – in der Mehrzahl eine Reihe kurzer, sanfter Schauer –, doch der erste von ihnen weckte mich, als mir eiskalte Tropfen aufs Gesicht fielen. In meinem unruhigen Schlaf war ich von meinem offenen Schlafsack heruntergerutscht und wachte daher mit dem Gesicht nach oben halb vor dem Zelt auf. Dem Teil meines Körpers, der noch auf der dünnen Isoliermatte lag, ging es gut, doch die anderen circa dreißig Prozent fühlten sich weit weniger wohl. Vor allem der Teil, auf den das kalte Wasser herunterprasselte.
    Ich kroch nur lang genug wieder hinein, um mich umzuziehen und meine Sachen zu packen. Als ich herauskam, sah ich, dass die anderen bereits das Lager auflösten. Niemand wollte länger hier bleiben. Obwohl das Wetter die Ankunft des Flugzeugs verzögern konnte, war gestern Abend beschlossen worden, dass wir zur Landebahn zurückkehren und dort warten würden.
    Gelegentliche, aber unberechenbare Windstöße machten es zu einer heiklen Aufgabe, mein kleines Zelt abzubauen, und die Männer, die mit dem großen Zelt kämpften, in dem Parrish untergebracht gewesen war, verloren mehrmals fast die Kontrolle darüber.
    Ich fragte mich, ob der Weg schlammig sein würde. Wir waren zuvor schon langsam vorangekommen, und auch wenn ein Teil des Gewichts, den die Verpflegung ausmachte, aus unserem Gepäck verschwunden war, würde die Leiche eine sperrige Last sein, die sich nur mühsam durch das Gelände transportieren ließ, durch das wir hergekommen waren.
    Der Regen dämpfte den durchdringenden Gestank der Leiche, an den ich mich schon fast gewöhnt hatte, und ersetzte ihn durch den Geruch feuchter Erde und nassen Holzes. Doch als die ersten Sturmböen abgeklungen waren und die Luft wieder ruhig wurde, kehrte der Leichengeruch zurück. Vielleicht war es die Feuchtigkeit in der Luft, die die Kraft des Geruchs zu verstärken schien, oder vielleicht führte

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