Grabesstille
ich das Bein neu verbunden und geschient.
Ich sah nach seiner Kopfwunde, die ebenfalls wieder aufgeplatzt war, aber nicht einmal annähernd so stark blutete wie zuvor das Bein. Nun konnte ich ihm auch das Gesicht waschen und die Blutflecken sowie den Schmutz entfernen, der sich darauf festgesetzt hatte, während er auf der Wiese lag.
Er war ausgesprochen bleich, und seine Haut fühlte sich zu kalt an. Obwohl er bei Bewusstsein war, war er teilnahmslos.
Ich lockerte seine Kleidung, lagerte seine Füße höher und legte zusätzlich zu der Matte und dem Schlafsack unter ihm noch einen zweiten Schlafsack auf ihn.
»Sagen Sie etwas, Ben.«
Er sah mich an, als hätte ich ihn aus dem Tiefschlaf geweckt.
»Wie heiße ich?«, fragte ich.
Nach einem langen, beängstigenden Moment fragte ich noch einmal.
»Irene«, antwortete er.
»Wie viele Finger halte ich hoch?«
Lange Pause. »Vier.«
Die richtige Antwort war zwei.
»Wie heißen Sie?«
»Ben.«
»Wie heißt der Hund?«
»Bingle.«
Bingle, der am Inhalt des Matchsacks herumgeschnüffelt hatte, hörte seinen Namen und rückte näher an Ben heran. Der Hund hatte etwas im Maul. Davids Pullover. Er setzte ihn ab, rieb sein Gesicht daran und legte sich dann mit dem Kopf auf den Pfoten darauf.
»David«, flüsterte Ben und kniff die Augen zu. Ich nahm seine Hand und hielt sie, während er leise weinte.
Ich weiß, dass Menschen mit Kopfverletzungen leicht die Fassung verlieren. Doch selbst wenn Ben heil von dieser Wiese weggekommen wäre, hätte ich es ihm nicht verdenken können, wenn er die ganze Nacht geweint hätte.
Bingle umsorgte ihn und legte sachte den Kopf auf Bens Brust. Ben begann ihm sanft das Fell zu streicheln, war aber schnell erschöpft und schlief bald ein, nachdem ihm Bingle mit der Schnauze die Wange liebkost hatte. Ich ließ seine Hand los.
Ich versuchte Bingle zu füttern, aber er roch nicht einmal an dem getrockneten Hundefutter, das ich ihm hinstellte. Davids komplizierte Zubereitungsart war mir unbekannt, aber ich glaube nicht, dass Bingles Weigerung daher rührte, dass er mäkelig war.
Ben erwachte einmal, und ich brachte ihn dazu, noch etwas Wasser zu trinken.
Ich beschloss, den Regen nicht ungenutzt fallen zu lassen, und stellte eine provisorische Vorrichtung auf, um ihn aufzufangen, indem ich ihn mithilfe einer Mülltüte in den Plastikeimer leitete.
Als ich hörte, dass sich Ben wieder regte, bereitete ich eine der Tütensuppen zu. Diesmal war er aufnahmefähiger, und ich stellte mit Erleichterung fest, dass er nicht mehr doppelt sah. Er war nach wie vor bleich, aber nicht ganz so weiß wie vor ein paar Stunden, und er sprach deutlicher. All diese Anzeichen waren so erfreulich, dass ich ihm nicht nur Suppe brachte, sondern auch ertrug, dass er sie im Schneckentempo selbst löffelte. Ich aß selbst auch etwas Suppe, gab ihm aber den Löwenanteil, da ich der Überzeugung war, dass er sich nie erholen würde, wenn er hungrig blieb, während ich mir zur Not etwas Essbares suchen konnte.
»Danke«, sagte er, als er fertig gegessen hatte, und fügte dann hinzu: »Ich weiß, dass Sie sich vermutlich kein schlimmeres Schicksal vorstellen können, als hier mit mir festzusitzen –«
»Komisch, das Gleiche wollte ich gerade zu Ihnen sagen. Ich weiß, dass Sie mir nicht trauen, und so abhängig von mir zu sein, muss Ihnen wirklich die Laune verderben.«
Er schüttelte den Kopf. »Sie sollten mich morgen hier liegen lassen. Retten Sie Ihr eigenes Leben.«
»Hmm. Tja, Ihr Märtyrertum würde mir tatsächlich eine Menge Ärger ersparen, aber wenn ich den ganzen Tag nichts zu tun hätte, würde ich wahrscheinlich verkommen.«
Darüber musste er ein bisschen schmunzeln.
»Ich will nicht allein mit Parrish da draußen sein, Ben.«
Er dachte einen Moment darüber nach und sagte dann: »Sollen wir Waffenstillstand schließen?«
»Ja – mehr als nur Waffenstillstand. Verbündete.«
»Also gut, Verbündete«, stimmte er zu. Dann legte er sich hin und schlief wieder ein, bevor es erneut zu regnen begann.
Bingle lag zwischen uns, den Kopf auf Davids Pullover gebettet, den er unmissverständlich als sein Eigentum reklamiert hatte. Ich hoffte, dass er damit zufrieden wäre und sich nicht am nächsten Morgen auf die Suche nach dem Stiefel machte.
Es gab kein Licht im Zelt. Ich war nicht bereit, meine Taschenlampenbatterien aufzubrauchen, und in einem Zelt eine Kerze anzuzünden gehört zu den eher tollkühnen Dingen, die man anstellen kann –
Weitere Kostenlose Bücher