Grabkammer
trugen die Krieger ihre Tsantsas an einer Schnur um den Hals. Ein Jahr darauf gab es ein zweites Fest, bei dem die Kraft der Seele des Opfers auf den Krieger übergehen sollte. Und noch einmal einen Monat später fand eine dritte Feier statt, bei der letzte Hand an die Tsantsas gelegt wurde. Die drei Holzpflöcke wurden aus den Lippen entfernt, man fädelte Baumwollschnüre durch die Löcher und verknotete sie. Auch der Ohrschmuck wurde bei dieser Gelegenheit angebracht. Von da an konnte der Krieger sich mit seinem Schrumpfkopf brüsten. Wann immer er seine Männlichkeit zur Schau stellen wollte, trug er seine Tsantsa um den Hals.«
Jane lachte ungläubig. »Genau wie heute die Typen mit ihren Goldkettchen. Scheint so ein Macho-Ding zu sein, sich irgendwelche Sachen um den Hals zu hängen.«
Maura ließ den Blick über die drei Tsantsas auf dem Tisch schweifen. Alle hatten in etwa die gleiche Größe. Alle hatten geflochtene Lippenschnüre und mit feinen Stichen vernähte Augenlider. »Ich fürchte, ich kann keine Unterschiede zwischen diesen drei Köpfen erkennen. Sie scheinen alle sehr kunstvoll gefertigt zu sein.«
»Das sind sie«, bestätigte Robinson. »Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied. Und ich spreche nicht vom Haarschnitt.« Er wandte sich zu Josephine um, die schweigend am Fuß des Tischs gestanden hatte. »Kannst du sehen, wovon ich spreche?«
Die junge Frau zögerte, als widerstrebte es ihr, näher zu treten. Doch dann zog sie Handschuhe an und kam an den Tisch.
Einen nach dem anderen hob sie die Köpfe ins Licht und untersuchte sie eingehend. Endlich zeigte sie auf einen Kopf mit langem Haar und Käferflügel-Ornamenten. »Dieser hier ist kein Jivaro-Schrumpfkopf«, sagte sie.
Robinson nickte. »Das sehe ich auch so.«
»Wegen der Ohrringe?«, fragte Maura.
»Nein. Ohrschmuck wie dieser ist traditionell«, antwortete Robinson.
»Aber wieso haben Sie dann ausgerechnet diesen gewählt, Dr. Pulcillo?«, fragte Maura. »Er unterscheidet sich doch so gut wie nicht von den beiden anderen.«
Josephine starrte den fraglichen Kopf an. Ihr schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern, ebenso dunkel und glänzend wie das der Tsantsas. So unheimlich ähnlich waren die Farben, dass man den Übergang kaum bemerken konnte. Nur für einen kurzen Moment hatte Maura den verstörenden Eindruck, dass sie zweimal denselben Kopf vor sich sah, vorher und nachher.
Zweimal Josephine, einmal lebendig und einmal tot. War das der Grund, warum die junge Frau sich so gesträubt hatte, die Tsantsa anzufassen? Erblickte sie sich selbst in diesen eingeschrumpften Zügen?
»Es sind die Lippen«, sagte Josephine.
Maura schüttelte den Kopf. »Ich sehe keinen Unterschied.
Bei allen dreien sind die Lippen mit Baumwollschnüren zugenäht.«
»Es hat mit dem Jivaro-Ritual zu tun. Mit dem, was Nicholas eben gesagt hat.«
»Was genau meinen Sie?«
»Dass die Holzpflöcke am Schluss aus den Lippen entfernt werden und man Baumwollschnüre durch die Löcher zieht.«
»Aber diese drei haben doch alle solche Schnüre.«
»Sicher, aber das geschieht erst nach dem dritten Fest.
Über ein Jahr nach dem Tod des Opfers.«
»Sie hat vollkommen recht«, sagte Robinson, offensichtlich erfreut, dass seine junge Kollegin genau das Detail herausgegriffen hatte, auf das er sie hatte hinführen wollen. »Die Lippenpflöcke, Dr. Isles! Wenn man sie ein Jahr lang drin lässt, bleiben klaffende Löcher zurück.«
Maura betrachtete die Köpfe auf dem Tisch. Zwei der Tsantsas wiesen große Löcher in den Lippen auf. Die dritte nicht.
»Bei dieser wurden keine Pflöcke verwendet«, sagte Robinson.
»Die Lippen wurden einfach zusammengenäht, gleich nachdem der Kopf abgetrennt worden war. Das ist keine Jivaro-Tsantsa.
Wer immer sie angefertigt hat, muss den einen oder anderen Schritt übersprungen haben. Vielleicht wusste er nicht genau, wie es gemacht wird. Oder der Schrumpfkopf sollte lediglich an Touristen verkauft oder gegen Handelsware eingetauscht werden. Aber jedenfalls ist es keine zeremonielle Tsantsa.«
»Und wo kommt der Kopf dann her?«, fragte Maura.
Robinson zögerte. »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass er kein echtes Jivaro-Artefakt ist.«
Mit behandschuhten Händen nahm Maura die Tsantsa vom Tisch. Sie hatte schon öfter abgetrennte Köpfe in den Händen gehalten, und dieser hier, dem die Schädelknochen fehlten, war verblüffend leicht, eine bloße Hülle aus
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