Grabkammer
betrachtete. Jeder gemeinsame Moment war ein gestohlener Moment, ein Moment der Heimlichkeit, und wenn sie auch zusammen lachten, hörte sie doch bisweilen einen verzweifelten Unterton aus diesem Lachen heraus, als versuchten sie sich einzureden, dass sie glücklich waren, jawohl, trotz der Schuldgefühle, der Täuschungsmanöver und der vielen einsamen Nächte. Aber sie konnte allmählich an seinem Gesicht sehen, welchen Preis er für die psychische Belastung zahlte. Allein in den letzten paar Monaten war sein Haar merklich grauer geworden. Wenn es einmal ganz weiß ist, dachte sie, werden wir uns dann immer noch bei geschlossenen Vorhängen treffen?
Und welche Veränderungen sieht er in meinem Gesicht? Es war nach Mitternacht, als er das Haus verließ. Sie war in seinen Armen eingeschlafen und hörte nicht, wie er aufstand. Als sie aufwachte, war er verschwunden, und das Laken an ihrer Seite war bereits kalt.
An diesem Morgen trank sie ihren Kaffee allein, machte Pfannkuchen für sich allein. Zu den besten Erinnerungen an ihre ansonsten ebenso katastrophale wie kurze Ehe mit Victor gehörten die gemeinsam verbrachten Sonntage, an denen sie bis in die Puppen geschlafen und es sich dann mit der Zeitung auf dem Wohnzimmersofa gemütlich gemacht hatten. Mit Daniel würde sie einen solchen Sonntag nie erleben. Während sie im Bademantel vor sich hin döste, die Seiten des Boston Globe rings um sich ausgebreitet, stand er wohl gerade vor seinen Schäfchen in der Kirche Unserer Lieben Frau vom Himmlischen Licht – den Schäfchen, deren Hirte selbst weit vom rechten Weg abgekommen war.
Das Läuten der Türglocke riss sie aus ihrem Schlummer.
Benommen setzte sie sich auf dem Sofa auf und sah, dass es schon zwei Uhr war. Es könnte Daniel sein.
Verstreute Zeitungsseiten raschelten unter ihren nackten Füßen, als sie durch das Wohnzimmer eilte. Kaum hatte sie die Tür geöffnet und den Mann erblickt, der auf der Veranda stand, da bedauerte sie, dass sie sich nicht die Haare gekämmt und etwas Anständiges angezogen hatte.
»Entschuldigen Sie die kleine Verspätung«, sagte Anthony Sansone. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
»Verspätung? Tut mir leid, aber ich habe Sie gar nicht erwartet.«
»Haben Sie denn meine Nachricht nicht bekommen? Ich hatte Ihnen gestern Nachmittag auf den Anrufbeantworter gesprochen, um zu sagen, dass ich heute bei Ihnen vorbeischauen werde.«
»Oh, ich habe wohl gestern Abend vergessen, das Band abzuhören.« Ich war anderweitig beschäftigt. Sie trat einen Schritt zurück. »Kommen Sie herein.«
Er ging durch ins Wohnzimmer, wo er stehen blieb und den Blick über die verstreuten Zeitungsteile und die leere Kaffeetasse schweifen ließ. Es war Monate her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte, und wieder einmal war sie beeindruckt von seinem ruhigen Auftreten und seiner stets wachsamen Art, als ob er beständig nach dem einen Detail suchte, das ihm entgangen war. Anders als Daniel, der auch auf Fremde sehr schnell zuging, war Anthony Sansone ein Mann, der sich mit Mauern umgab; ein Mann, der in einem Raum voller Menschen stehen und dennoch eine Aura kühler Distanz und Reserviertheit ausstrahlen konnte. Sie fragte sich, was er wohl dachte, als er das Durcheinander in ihrem Wohnzimmer, die sichtbaren Zeichen ihres vertrödelten Sonntags sah. Nicht jeder kann sich einen Butler leisten, dachte sie. Nicht jeder wohnt wie Sie in einer Villa am Beacon Hill.
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie zu Hause behellige«, sagte er.
»Aber ich wollte keinen offiziellen Termin in der Rechtsmedizin daraus machen.« Er wandte sich zu ihr um. »Und ich wollte mich auch erkundigen, wie es Ihnen geht, Maura. Ich habe Sie lange nicht mehr gesehen.«
»Mir geht es gut. Ich hatte viel zu tun in letzter Zeit.«
»Der Mephisto-Club hat seine allwöchentlichen Diners in meinem Haus wieder aufgenommen. Wir könnten Ihre Sicht der Dinge durchaus gebrauchen, und wir würden uns sehr freuen, Sie an einem der nächsten Abende wieder in unserer Runde begrüßen zu können.«
»Um über das Verbrechen zu diskutieren? Nein danke, mit dem Thema muss ich mich bei meiner Arbeit schon genug auseinandersetzen.«
»Nicht so, wie wir an die Sache herangehen. Sie betrachten nur die Folgen des Verbrechens; wir beschäftigen uns mit den Ursachen seiner Existenz.«
Sie begann, die Zeitungen aufzulesen und auf einen Stapel zu legen. »Ich passe wirklich nicht in Ihre Gruppe. Ich akzeptiere Ihre Theorien nicht.«
»Auch
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