Grablichter - Almstädt, E: Grablichter
sich ergehen wie einen Regenguss. Schließlich versiegte ihr Redestrom, sie warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Musst du los?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Äh, ja, gleich. Wenn ich wirklich nichts für dich tun kann, Jan?«
Er schüttelte stumm den Kopf.
»Kann ich zahlen, Heinrich? Es macht dir noch nichts aus, Jan?«
Er fand ihr Verhalten sonderbar. Sie hatte ihn gebeten, herzukommen.Was hatte sie damit bezweckt? War sie vielleicht neugierig gewesen? Er zog seine Geldbörse hervor. Eigentlich hatte er keine Lust, sie zu dem Glas Wein, das sie getrunken hatte, einzuladen. Aber er war konservativ erzogen worden. Wenn auch alles kaputtging, die guten Manieren hielten einen aufrecht. Also lud er sie ein. Es war sowieso Zeit, nach Hause zu gehen, wenn er morgen allein die Pferde versorgen musste. Vielleicht kam heute Nacht ja noch das Fohlen. Lisanne würde dann nicht dabei sein, um die Geburt mitzuerleben. Sie hatten sich beide auf dieses Fohlen gefreut … Und morgen war Sonntag. Der erste Sonntag ohne sie … Am Wochenende hatten Lisanne und er immer gemeinsam den Stall gemacht und dann zusammen bei ihr im Haus gefrühstückt. Wunderbare Vormittage waren das gewesen, entspannt und gemütlich, mit Bergen von frischen Brötchen, gekochten Eiern und Milchkaffee. Warum hatte er das nie richtig zu würdigen gewusst, als er es noch gehabt hatte?
Beim Abschied drückte Anke Loss seine Hand etwas zu lange. Sie flüsterte »Ciao, Jan« und marschierte aus der Kneipe.
Er blieb wie betäubt sitzen, fühlte die Blicke der anderen Gäste auf sich ruhen, als litte er unter einer unheilbaren Krankheit. Freund der Ermordeten. Wie lange würden sie ihm diesen Stempel aufdrücken? So lange, bis etwas Neues, Skandalträchtiges in Kirchhagen geschah? Und er wusste schon jetzt, egal, wie lange dieses Ereignis auch auf sich warten ließ: Er würde immer noch trauern, wenn die Leute hier längst über neue Schicksalsschläge redeten. »Das Leben geht weiter«, würden sie später zu ihm sagen, »die Welt ist voller Frauen, die nur darauf warten, dich kennenzulernen. Du musst nur mal wieder unter Menschen gehen …«
Als er aufstand, nahm er sich vor, nicht wieder herzukommen, solange er in dieser Stimmung war – vielleicht nie wieder.
11. Kapitel
A ls Jan Dettendorf der von Bierdunst, Zigarettenrauch und Mitleid verseuchten Atmosphäre des Dorfkruges entkommen war, sog er die kühle Nachtluft tief ein wie etwas, das der Arzt ihm verschrieben hatte. Dann machte er sich auf den Heimweg. Heinrichs Kneipe lag am Ortsende, direkt neben der Kirchhagener Au . Er hörte das Wasser des Flüsschens plätschern und stellte sich vor, wie die Feuchtigkeit langsam und zerstörerisch in das Fundament von Heinrichs altem Haus eindrang, bevor der Wasserlauf in einem engen Rohr unter der Hauptstraße verschwand. Neben der Kneipe erstreckte sich die lange Reihe der ehemaligen Tagelöhnerkaten bis über das Ortsende hinaus. Dunkel und verlassen aussehend, kauerten sie am Feldrand. Schräg gegenüber befand sich der Hof von Frank Reuter. Dettendorf überquerte die Hauptstraße und musterte dabei die Ansammlung von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. Durch die schmutzigen Scheiben der Werkstatt neben dem ehemaligen Kuhstall schimmerte noch Licht.
Als Kinder hatten Frank Reuter und er oft in der Werkstatt gespielt. Einmal, sie mussten noch recht jung gewesen sein, hatten sie, als der alte Reuter gerade Mittagspause gemacht hatte, die Einzelteile eines gerade zerlegten Treckermotors neu sortiert … Frank hatte danach eine Woche lang Hausarrest gehabt. Einen Moment lang erwog Dettendorf, noch bei ihm vorbeizuschauen. Sie waren mal Freunde gewesen, doch ihre Wege hatten sich getrennt. Frank war Berufssoldat geworden, während er sich der Pferdezucht verschrieben hatte. Obes noch einen Anknüpfungspunkt zwischen ihnen gab? Ein gemeinsames Erlebnis vor der Weggabelung, das ihnen beiden etwas bedeutete? Das Gespräch mit Anke Loss war ein Fiasko gewesen. Konnte Frank Reuter ihn verstehen?
Verlust, Trauer, Verunsicherung – Frank Reuter war geprägt von dem, was er während seiner Einsätze im Kosovo erlebt hatte. Rein äußerlich gesehen, fehlten ihm seitdem zwei Finger an seiner rechten Hand, und er hatte eine Narbe über dem Auge. Doch wie sah es mit den anderen Narben aus, mit denen, die man nicht sah?
Er hatte nie mit Frank Reuter über dessen Erlebnisse als Soldat gesprochen. Warum eigentlich nicht? Um nicht in alten Wunden zu
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