Grabmoosalm (German Edition)
natürlich herumgesprochen.«
Ottakring zuckte mit den Achseln, machte einen kleinen Umweg über
die Pforte, warf dem Raubvogel ein engelsgleiches »Avemariapurissima« hin und
wurde nach oben durchgelassen.
Er nahm zwei Stufen auf einmal. Von Weitem schon hörte er das Summen
des Öffners und, als er drinnen war, das dröhnende Organ des Herrn Adlmayer und
den quietschenden Trompeter. Er ließ die freundlich lächelnde Frau Lunau links
liegen und stand am Fenster.
Er öffnete es. Frau Unruh stand noch immer unten und warf ihm böse
Blicke zu.
»Ich habe Ihnen doch untersagt …«, begann sie zu kreischen.
»Jetzt bin ich aber hier. Und hier oben regt sich niemand auf«, rief
der Kriminalrat hinunter. »Wer hat denn das Fenster nach ihrem Fall
geschlossen? Meine Mutter kann es ja wohl nicht gewesen sein.«
Ephraim Stubenrauch hatte sich ihm angeschlossen und winkte Frau
Unruh beschwingt zu.
Ottakring schob ihn vorsichtig weg und schloss das Fenster wieder.
»Haben Sie gesehen, wie die Gretl Ottakring aus dem Fenster gefallen
ist?«, fragte er den Stubenrauch.
Der Bachtrompeter sah ihn an. »Die Gretl ist auf ihrem Zimmer«,
sagte er. »Die ist immer auf ihrem Zimmer.«
Hier kam er nicht weiter, war Ottakring nach dieser Antwort klar.
Ein Verdacht begann sich in seinem Kopf einzunisten.
»Ich hatte Ihnen verboten, das Haus zu betreten«, kam es von der
Seite.
Unruh, die Schmächtige.
»Ich wohne aber hier«, klagte Pauline, die hinzugekommen war. Sie
öffnete ihre braune Handtasche und nahm das Telefon heraus. »Aber mein Telefon
geht noch immer nicht. Und eines will ich Ihnen bei der Gelegenheit auch noch
sagen. Hier wird viel zu wenig geputzt.«
»Ist gut, Pauline, der Techniker ist informiert«, sagte Frau Unruh.
»Er wird bestimmt bald kommen.«
Ottakring tat jeder Einzelne leid, der hier lebte. Leben musste,
weil es nicht mehr anders ging. Nur gut, dass die meisten nicht mitbekamen, in
welchem Zustand sie waren.
»Sie haben mich gerufen«, sagte er zu Frau Unruh, »weil meine Mutter
aus dem Fenster gefallen ist.«
Er rollte mit den Augen, verschränkte die Arme vor der Brust und
mandelte sich bewusst auf wie immer, wenn es gegen Preußen ging.
»Genau«, sagte Pauline, die dazugetreten war. »Der Techniker ist
informiert.«
»Hören Sie also auf, mich herumkommandieren zu wollen. Ich will
klären, aus welchem Grund sie diesen Unfall hatte. I glaub nämlich ned an
Märchen.«
Wenn er erbost war, verfiel er häufig in sein geliebtes
Oberbayerisch.
»Sie haben vorhin gsagt, dass nix verändert worden ist. Das Fenster,
aus dem sie gefallen ist, war geschlossen. Wer hat also dieses Fenster hinter
meiner Mutter geschlossen? Das müssten Sie doch wissen, oder? Und am besten
auch noch, wann und warum.«
»Die Moserin, glaub ich«, flüsterte Pauline geheimnisvoll. »Die
macht immer alle Fenster zu, wenn’s zieht.«
Sie holte ihr kaputtes Telefon aus der Handtasche.
»Soll ich sie anrufen?«
Es hatte keinen Sinn. Ottakring spielte kurz mit dem
Gedanken, sich zu verabschieden. Doch dann übermannte ihn das schlechte Gewissen.
Er suchte seine Mutter auf.
Allein. Die Unruh hatte er vorher abgeschüttelt.
»Mir tut alles weh«, klagte Gretl Ottakring. Mit beiden Händen fuhr
sie sich über den Rücken. »Das ganze Kreuz.«
Ottakring wechselte einen betrübten Blick mit der Schwester, die
neben dem Bett stand.
»Woher kommen die Schmerzen denn?«, fragte er.
»Na, vom Kreuz halt.«
»Mutter, ich meine, wie sind die Schmerzen entstanden? Ist was
passiert?«
»Passiert? Was soll passiert sein? Mir tut bloß alles weh.«
Ottakring beugte sich über sie, sodass sie seinen Atem spüren
konnte.
»Und du erinnerst dich an nichts? Bist du irgendwo gestürzt oder
heruntergefallen?«
Seine Mutter stützte sich im Liegen auf dem Ellenbogen ab und
schaute ihm tief und lange in die Augen.
Dann antwortete sie: »Du weißt genau, wie ich damals vom Radl
gefallen bin, Schatzi. Weil der Hund die Katz entdeckt hat und so gezogen hat
und vors Radl gelaufen ist. Aber deswegen tut mir doch jetzt das Kreuz nimmer
weh.«
Endlich nahm sich Ottakring ein Herz.
»Mutter, du bist heute im zweiten Stock aus dem Fenster gestürzt.
Ein Schubkarren mit Heu hat dich aufgefangen, deswegen bist du nicht richtig
verletzt. Du hast Glück gehabt. Kannst du dich daran erinnern?«
Gretl Ottakring ließ sich aufs Bett sinken und starrte zur Decke.
Ihr Haar hatte ein ähnliches Weiß wie das des Kissens, auf dem sie lag.
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