Grabmoosalm (German Edition)
Nach
einer Weile schüttelte sie den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Aus dem Fenster gestürzt? Und ich weiß nix?
Gell, Schatzi, ich spinn doch ned, oder?«
Alles umsonst. Sie wusste nicht, wer sie gestoßen hatte.
NEUN
Die Frau im Teppich war verblutet. Die Leiche zeigte
ungewöhnlich schwere Schädel- und Hirnverletzungen, was möglicherweise auf eine
Affekttat hinwies.
»Anhaltspunkte für ein Sexualdelikt liegen nicht vor«, sagte der
junge Beamte, der Rico Stahl und Chili Toledo auf dem Parkplatz der
Papierfabrik empfing. »Der Doktor ist vor wenigen Minuten wieder weggefahren.
Sein Schnelltest auf Drogen und Alkohol war negativ.«
Rico strich sich übers gegelte Haar und dachte kurz nach. Dann
richtete er den Blick auf Chili.
»Sie war also sauber. Und jetzt?«, fragte er prüfend.
Chili hob die Schultern. Sie schob einen Ärmel zurück und sah auf
die Uhr. Dann packte sie ihr Handy aus und drückte eine Kurzwahl.
»Öffentlichkeitsfahndung«, sprach sie hinein. »Nachricht an alle Dienststellen.
Pressemeldung absetzen. Foto vom Gesicht des Opfers. Beschreibung der
Bekleidung und –«
Chili unterbrach sich und sah den jungen Beamten an. »Hatte sie
Schmuck am Körper? Ist sie tätowiert? Gepierct?«
Der Kollege starrte sie an und hörte ihr zu, als würde er gerade mit
einer fremden Sprache bekannt gemacht.
Auch ohne ihre Fragen hätte Chili seine Aufmerksamkeit auf sich
gezogen. Sie trug wieder ihre stark körperbetonten Jeans, die hinten mit
silbernen Ornamenten bestickt waren. Eine dünne moosfarbene Wildlederjacke hing
über ihren Schultern, um deren schmalen Pelzkragen ein beinahe bodenlanger
ockerfarbener Schal geschlungen war. Die Augen verbarg sie hinter einer
Ray-Ban-Sonnenbrille mit sich farblich widersprechender Fassung.
Rico betrachtete den Kollegen, der Ende der zwanzig sein mochte. Er
schien von der Frau hingerissen.
Genau wie er selbst, musste er sich eingestehen. Nervös rückte er
seine Krawatte zurecht.
»Ich hab Sie was gefragt«, setzte Chili ungeduldig nach.
Sie hörte ein kurzes Stammeln, dann die Antwort. »Ja, sie hatte eine
Halskette … glaub ich … gepierct … ich weiß nicht. Da muss ich
den Arzt konsult–«
»Dann aber flott!«, rief Rico etwas überlaut aus. »Auf so was schaut
man doch!«
Aus dem geöffneten Wagenfenster rief er ihm noch zu: »Den
Todeszeitpunkt werden Sie dann auch nicht kennen, oder?«
Unmittelbar nach Ausstrahlung des Fotos der unbekannten
Frau in den Abendnachrichten des Lokalfernsehens meldete sich bei der
Einsatzzentrale ein erster Zeuge am Telefon.
»Ich bin fast sicher, die kenn ich!«, sagte er aufgeregt.
»Bitte sagen Sie uns Ihren Namen.«
»Mühlhofer, Franz, Alpenweg 7. Ich arbeite bei der Firma
Colatol. Ich bin der Produktionschef dort.«
Mühlhofer meinte, in der Toten eine türkische Mitarbeiterin erkannt
zu haben.
»Aber absolut sicher bin ich mir nicht. Ich müsste das Foto noch mal
sehen.«
»Dann kommen Sie doch bitte her.«
»Jetzt noch? Mitten in der Nacht?«
»Es ist kurz vor acht. Unbedingt jetzt noch, Herr Mühlhofer.«
Gleichzeitig verständigte der diensthabende Beamte Rico Stahl.
Der wollte sich, als Mühlhofer gegen halb neun erschien, selbst ein
Bild machen. Er zog sich mit dem Zeugen und einem Aufzeichnungsgerät in einen
der Vernehmungsräume im Präsidium zurück, nachdem ihm das Foto der Toten
gezeigt und seine Personalien aufgenommen worden waren.
Colatol war einer der führenden Hersteller von Klebemitteln und –maschinen,
und der Diplomingenieur ( FH )
Franz Mühlhofer leitete die Produktion.
»Ja ja«, bestätigte er, als er das Foto in der Hand hielt. »Jetzt
bin ich mir ganz sicher. Das ist Gülsüm Hastemir. Eine Türkin, die in meinem
Bereich gearbeitet hat. Hauptsächlich hat sie halbflüssigen Klebstoff in Eimer
abgefüllt.«
»Sicher, dass es sich bei der Toten um Ihre Mitarbeiterin handelt?«
»Ganz sicher. Absolut«, antwortete Mühlhofer mit zittriger Stimme.
Rico sah genauer hin.
Der Mann hatte Tränen in den Augen. Als ob er sie nicht nur gekannt
hatte, sondern als ob er trauerte.
Trauert ein Manager um eine Arbeiterin? Seltsam. Doch er stellte
seine Frage vorerst zurück.
»Wissen Sie, wie alt Frau Hastemir war?«, fragte er.
Gleichzeitig schickte er eine Mail von seinem Laptop ab. »Findet
alles raus über Gülsüm Hastemir, beschäftigt bei Colatol.«
»Einundzwanzig«, kam es ohne Zögern aus Mühlhofers Mund. »Sie ist
einundzwanzig … äh, war einundzwanzig
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