Grabmoosalm (German Edition)
ihrer
Eltern gewesen. Sie war in einem Behälter mit wattiertem Innenleben vor dem Jugendrathaus
der Stadt ausgesetzt und an einem eiskalten Morgen vorgefunden worden. »Meistbietend
versteigert« habe man sie, hieß es, weil sie so ein hübsches, niedliches Baby
gewesen sei.
Doch daran hegte Ottakring Zweifel, wenn er ihren heutigen Gesamtzustand
betrachtete. Für ihn war sie – seit Vaters Tod jedenfalls – zu einer
selbstsüchtigen und bösartigen alten Frau herangewachsen.
Das Alleinsein hatte seine Mutter komplett verändert. Mit jedem Tag
war sie herrschsüchtiger und aggressiver geworden in ihrem großen Haus. Hatte
den Briefträger des Diebstahls bezichtigt, andererseits mit Geld und
Trinkgeldern um sich geworfen. Niemand konnte ihr etwas recht machen, in drei
Monaten hatten sich fünf Putzfrauen die Klinke in die Hand gegeben.
Nach der dritten wusste Gretl Ottakring nichts mehr von der ersten
und nach der fünften nichts mehr von der vierten. Als ihr Zustand immer
unerträglicher wurde und er zufällig im Internet einen Fachartikel gelesen
hatte, war ihm endlich ein Licht aufgegangen. Seine Mutter litt an beginnendem
Alzheimer.
Während der ersten Monate hatte er versucht, sie allein zu
versorgen, was seinen Tagesablauf immens sprengte und den Porsche einige
tausend Kilometer kostete. Rasch merkte er, dass er besser ein Rudel wilder
Hunde hätte hüten können als seine Mutter. Über das Rote Kreuz besorgte er eine
Haushaltshilfe für sie. Deren Nachfolgerin kam über die Nachbarschaftshilfe der
Stadt, und schließlich ließ er eine Frau aus Rumänien einfliegen, welche ihm
von einer befreundeten Familie empfohlen worden war, die mit demselben Problem
zu kämpfen gehabt hatte.
Jeder Wechsel war mit Streit, Chaos, Elend und Verzweiflung verbunden
gewesen. Schließlich war er froh, dass im Grandis ein Platz frei wurde, zuerst
auf der normalen Altenstation. Als dann in der geschlossenen Abteilung ein
vierundneunzigjähriger Mann verstarb, wurde seine Mutter gleich am nächsten Tag
in dessen Zimmer umgesiedelt. Kurze Zeit später hatte sie sich mit der Moserin
angefreundet, was nach wenigen Tagen zu Unruhe, ja Aufruhr geführt hatte.
»Führen Sie mich sofort zu meiner Mutter«, sagte Ottakring in
scharfem Ton.
Frau Unruh sah ihn von der Seite an.
»Sie schläft jetzt. Und sie ist in guten Händen. Besuchen können Sie
sie später. Vorher will ich Ihnen zeigen, wie es passiert ist. Kommen Sie.«
Mit grimmiger Miene betrat Ottakring im Gefolge der Frau das
Gebäude. Sie ließen den Empfang mit der Nonne links liegen – Ottakring
winkte ihr vertraut zu –, verließen das Haus an der Rückseite und standen
im Innenhof. Er war nicht sehr groß, beinahe quadratisch und von drei Seiten
umbaut. Wie leere Augen blickten Fenster von überall herab. Weit über dem Hof
schwebte ein an drei Enden befestigtes weißes Segel. Es sollte bei Hitze
Schatten und bei Regen Trockenheit spenden.
Frau Unruh deutete zu einem der Fenster im zweiten Stockwerk hinauf.
Ihre Finger zitterten.
»Aus diesem Flurfenster«, sagte sie. »Sie hat es geöffnet und ist
heruntergefallen. Alle Fenster sind gewöhnlich geschlossen. Dass sie sich mit
Absicht heruntergestürzt hat, schließe ich aus.«
Ottakring blickte hinauf. Das Fenster war geschlossen.
»Ist nach dem Sturz etwas verändert worden?«, fragte er kritisch.
Sie sah ihn an. »Nein. Was sollte denn verändert worden sein?«
Er äußerte sich nicht weiter.
»Wie ist ihr Zustand?«, fuhr er schließlich fort.
»Ich denke, gut. Wir haben sie zur Beobachtung in unser Hospital
gebracht. Wie gesagt, sie schläft jetzt. Wir werden sie nachher besuchen.«
Nachdem sie Ottakrings Miene gelesen hatte, ergänzte sie: »Wenn Sie es
wünschen.«
Die schmächtige Frau Unruh nahm Ottakring am Arm und ging ein paar
Schritte mit ihm.
»Hier steht noch der Schubkarren. Stellen Sie sich vor, solch ein
Zufall. Unser Gärtner schiebt gerade den Karren mit Heu für die Viecher vorbei,
als Ihre Mutter herunterfällt, und zwar genau in das Heu hinein. Das hat die
Wucht des Sturzes natürlich zu unser aller Glück sehr gedämpft.«
Die Frau sprach pures Hochdeutsch. Das machte sie für Ottakring
nicht sympathischer. Sein Blick hing immer noch an dem geschlossenen Fenster,
aus dem seine Mutter angeblich aus eigenem Antrieb gefallen war.
»Können wir da mal hinaufgehen?«
Frau Unruh verzog ihr Gesicht.
»Ungern. Die Patienten sind jetzt schon über die Maßen aufgeregt. Es
hat sich
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