Grabmoosalm (German Edition)
er. »Mit Sicherheit Fremdverschulden.«
Rico sprang auf und marschierte Richtung Fenster. Dann nahm er das
Telefon vom Ohr und tippte auf Mithören.
»Eine unbekannte junge Frau wurde erschlagen und in ein Stück Teppich
eingerollt. Ein Sexualverbrechen scheint nach erstem Anschein nicht
vorzuliegen. Es dürfte sich um eine Südosteuropäerin handeln. Türkin oder
Griechin. Wir konnten sie bisher nicht identifizieren. Wir haben die
vorliegenden Vermisstenanzeigen geprüft. Keine Beschreibung passt auf die
Tote.«
Chili hatte sich erhoben und sich neben Rico ans Fenster gestellt.
Beide sahen hinaus.
Rico räusperte sich. »Fundort?«, fragte er hastig ins Telefon.
»An der Papierfabrik unterhalb der Grabmoosalm …«
Die beiden am Fenster sahen sich an. Ihnen kam derselbe Gedanke.
»… in der hintersten Ecke vom Parkplatz.«
»Also Fundort nicht gleich Tatort«, bestätigte Rico.
»Das erschwert die Ermittlungen«, sagte Chili leise. »Eine alte
Weisheit.«
»Das Opfer macht einen gepflegten Eindruck«, hörten sie weiter.
»Nicht ausgeschlossen, dass es aus dem Rotlichtmilieu stammt. Auch eine
Eifersuchtstat …«
Es reichte.
»Ich komme sofort«, rief Rico ins Telefon. »Wartet, bis ich da bin.«
»Vielleicht ein Familiendrama«, sagte Chili, nachdem er aufgelegt
hatte.
»Das sind doch alles reine Spekulationen. Die führen uns vorerst
nicht weiter«, bemerkte Rico Stahl im Hinausgehen leicht genervt. »Was mir auch
zu schaffen macht, ist die Frage, ob ein Zusammenhang zu dem Tod auf der
Grabmoosalm besteht.«
Chili nickte.
»Nicht, dass wir da an etwas Größeres geraten sind«, sagte sie.
***
Während der Fahrt hinunter in die Stadt wunderte sich
Ottakring über sich selbst. Er wunderte sich, warum er keine Sorge empfand und
keine Eile hatte. Der Anruf, der ihn auf der Grabmoosalm erreicht hatte, hätte
allen Grund dazu hergegeben. Es war die Heimleiterin gewesen, die ihn verständigt
hatte.
»Diese Betrügerin«, murmelte er leise.
Als er sich durch die verkehrsfeindliche Rosenheimer Innenstadt
gekämpft hatte, ohne von einem Lkw angekratzt zu werden oder selbst jemanden zu
Tode gebracht zu haben, fand er schließlich mit viel Glück einen Parkplatz in
Reichweite des Wohnstifts Grandis. Ein Getränkelaster, der das Haus beliefert
hatte, hatte sich aus einer knappen Nische gezwängt, ohne den Vordermann
anzufahren.
Das Haus müsste einmal gestrichen werden, dachte Ottakring, als er
von der anderen Straßenseite aus hinüberschaute. Doch hier scheint’s an allen
Ecken und Enden an Geld zu fehlen.
Das graue Mauerwerk des Westflügels war alt und verwittert. Dieses
Gebäude hatte deutlich bessere Zeiten erlebt. Über der zweiten Etage, auf der
seine Mutter untergebracht war, erhob sich ein seltsames Durcheinander von
Türmchen, Zinnen und Giebeln. Die Südfassade war mit kunstvollen
Holzschnitzereien übersät.
»Hallo!«
Nun erst bemerkte er die Heimleiterin auf der gegenüberliegenden
Straßenseite. Wieder verblüffte ihn die Ähnlichkeit mit der Bundeskanzlerin.
Die Frisur, die hängenden Mundwinkel. Allerdings hatte sie sehr tief liegende
Augen.
Sein Gesicht verfinsterte sich.
»Kommen Sie doch. Rasch!«, rief Frau Unruh.
Von dir lass ich mir gar nichts sagen, dachte Ottakring und begann
betont langsam, mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, die Straße zu überqueren.
Doch dann, nachdem er zwei Autos hatte passieren lassen, beschleunigte er
seinen Schritt. Auch wenn er nur seine Pflicht tat – um seine Mutter
musste er sich kümmern.
Zeit seines Lebens hatte Joe Ottakring immer den Eindruck gehabt,
seine Eltern führten eine gute Ehe und seine Mutter sei ihm eine gute Mutter
gewesen. Erst als Vater vor fünf Jahren gestorben war, hatte er festgestellt,
dass er mit seiner Mutter eigentlich kaum Kontakt gehabt hatte. Er war viel
näher an Vater dran gewesen als an seiner Mutter. Mit ihm war er beim Fußball
gewesen, später auch auf ein Bier im Wirtshaus, und mit ihm hatte er die
Leidenschaft für alte Autos geteilt. Vater hatte ihm gezeigt, wie man dafür
Ersatzteile beschafft und die alten Teile austauscht. Erst kürzlich hatte
Ottakring an seinem orangefarbenen Oldtimer-Porsche das hintere Ausstellfenster
ausgetauscht.
Nach Vaters Tod hatte er allerdings erfahren müssen, dass er über viele
Jahre eine Freundin gehabt hatte.
Auch aus Mutters Leben war ihm Neues zugetragen worden, was die
Eltern bis dahin verschwiegen hatten. Sie war nicht das leibliche Kind
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