Grabmoosalm (German Edition)
Wald
betreten hatte, stand er vor einer weiten, flachen Lichtung.
»Rehwiesen« stand auf einem kleinen gelben Schild. Die Fläche war
mit gigantischen moosbewachsenen Findlingen durchsetzt. Als hätten hier früher
Riesen gekegelt. Er folgte dem schmalen Pfad, der ihn durch bräunliches Gras
vorbei an modernden Baumstümpfen, Silberdisteln und vertrockneten Kuhfladen
führte. Es roch nach Schwammerln.
Aus purem Übermut erkletterte er einen Hochstand. Er hockte sich auf
ein quer gelegtes Brett und ließ für wenige Minuten den Blick schweifen.
Eine Weile war es still gewesen. Nun aber hatte das Bellen erneut
begonnen. Es war noch lauter als zuvor und rutschte in ein wütendes Kläffen und
Kreischen ab.
Dann sah er ihn kommen. Er musste zweimal hinschauen, um es zu
glauben.
Der Pfeiferl kam zwischen den Bäumen hindurch aus dem Wald gerannt.
Seine Beine wirbelten, sie steckten in kurzen Hosen, er wirkte aufgeregt.
Ottakring hangelte sich so rasch er konnte von seiner Kanzel
herunter. Beinahe wäre abgerutscht.
»Hallo, Pfeiferl«, rief er laut.
Im Laufen schaute der Bub zu ihm her. Er änderte den Kurs und kam
direkt auf ihn zugerannt. In letzter Sekunde überlegte er es sich anders und
versuchte, einen Haken zu schlagen. Dabei geriet er mit einem Bein in einen
herumliegenden Zweig, der ihn unsanft stoppte.
Es ging alles sehr schnell.
Der Pfeiferl hatte den Mann schon von Weitem gesehen.
Zuerst hielt er ihn für einen Fremden. Doch dann erkannte er in ihm den alten
Polizisten, der schon öfters auf der Alm gewesen war. Was wollte der hier
draußen?
Der Pfeiferl hatte Angst. Die Sissi und der Wolf hatten gekämpft.
Der Wolf hatte nach ihm geschnappt, und er würde der Mama erklären müssen,
woher die Bisswunde stammte. Die Sissi war ihm zum ersten Mal im Leben nicht
gefolgt, und er hatte so ein komisches Gefühl im Magen wegen der Arabella.
Außerdem: Wie hatte das funktioniert, dass er plötzlich wieder reden konnte? Er
war gespannt, ob die Scheißpfeiferei damit endgültig vorbei war.
Das alles zusammen bereitete ihm Angst. Fünf, sechs Sekunden lang
hatte er schon überlegt, ob er nicht auch im Wald bleiben sollte, so wie die
Bella.
Sie hatte ihm gesagt, dass sie schon seit Tagen bei dem Wolf in der
Höhle wohnte. Zuerst hatte er ihr nicht geglaubt.
»Du spinnst. Du lügst.«
Doch nachher hatte er es ihr doch abgenommen.
Sie hatte ihm verraten, warum sie in der Höhle bei dem Wolf wohnte.
Warum sie von zu Hause weggelaufen war.
Und das war der springende Punkt. Von zu Hause würde er, der Seppe,
niemals weglaufen. Dafür hatte er die Mama viel zu lieb. Er mochte sie, die
Wirtschaft, die Sissi, einfach die ganze Umgebung. Den ganzen Laden, einfach
alles.
Außerdem könnte er dann nicht mehr in die Schule gehen. Er mochte
die Schule, weil er dann andere Kinder traf und nicht mehr das einzige war wie
oben auf der Alm. Die Bella hatte er auch gefragt, wie sie es denn mit der
Schule machte, wenn die Ferien vorbei waren.
»Schule? Scheiße!«, hatte sie gesagt. Ihr war die Schule wurscht.
Die Bella. Er musste die Bella unbedingt wiedersehen. Aber jetzt
sollte er schauen, dass die Sissi nachkam. Sonst würde er zweimal geschimpft,
wegen dem Biss und wegen der Sissi. Ach, die Sissi würde schon hinterherkommen.
So richtig ernst hatten die zwei ihre Beißerei bestimmt nicht gemeint.
Es war zwischen denen eher so wie zwischen ihm und der Bella, das stand für ihn
fest.
Aber jetzt musste er aufpassen. Der Polizist!
Er wollte ihn elegant umrunden, aber – vermaledeit, hätte die
Mama jetzt geschrien.
Und schon lag er auf der Nase.
Als Erstes roch er den feuchten Dreck, in dem die Nase steckte.
Nein, falsch. Sein ganzes Gesicht einschließlich der Stirn und der Augen lag in
dem Matsch. Dann roch er das Blut. Es konnte unmöglich das Blut von der kleinen
Schramme sein, die ihm der Wolf verpasst hatte. Es war mehr. Er holte die Hand
unter dem Körper hervor und hielt sie an die Nase. Im Nu war sie voller Blut.
Er roch noch mehr. O vermaledeit! Das, was er da roch –
nein, er roch es nicht, er spürte es. Erst jetzt merkte er es. Es fühlte sich
sehr feucht an in seiner Hose zwischen seinen Beinen. Warm und feucht und nass,
und es wurde immer nasser.
Er war dabei, sich in die Hose zu bieseln!
»Geht’s dir gut?«, fragte eine tiefe Stimme über ihm. Eine Stimme,
die er nicht kannte, obwohl er den Mann schon gesehen hatte. Trotzdem eine
Stimme, die er mochte. Die ihn beruhigte, irgendwie.
Was nun
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