Grabmoosalm (German Edition)
nur darauf? Ich habe nichts zu verbergen …«
Mit einer Handbewegung stoppte Hakan ihren Redefluss.
»Gestern am späten Nachmittag habe ich Gülsüms Vater getroffen«,
sagte er. »Er vermutete, dass sie bei einem Bekannten sei. Einem Deutschen. Er
wusste aber nicht, wo dieser Mann wohnt, sonst hätte er ihn aufgesucht –«
»Gülsüm würde nie, nie, nie ihr kleines Kind zwei Tage allein lassen«,
unterbrach Hanife schluchzend. »Das hätte sie nie getan. Bestimmt hat ihr Vater
sich um den Kleinen gekümmert, aber … nein, nein, nein. Ihr muss Gewalt
angetan worden sein.«
Den letzten Satz schrie die Frau hinaus.
Sie schlug die Hände vors Gesicht.
Das kann man wohl sagen, dachte Rico. Er sah kurz aus dem Fenster.
Es war dunkel geworden, man sah den Strahl von Autoscheinwerfern
vorüberhuschen, das Licht einer Verkehrsampel spiegelte sich im Glas.
Er gab Chili einen Wink. Wie immer wollte er sich mit ihr
besprechen, bevor nächste Schritte folgten.
Hakan Oben wirkte plötzlich kalt und feindselig.
Der Oberkörper seiner Frau zuckte im Rhythmus ihres leisen
Schluchzens.
Rico war aufgestanden. Ein letztes Mal musterte er das türkische
Paar. Wenn die Aussagen stimmten, konnte zumindest der Tatzeitpunkt ziemlich
deutlich eingegrenzt werden. Und er musste sich den Chef der Ermordeten, diesen
Mühl … Mühl … Mühlstein noch einmal vornehmen.
ZWEI
Joe Ottakring hatte Sehnsucht nach seiner Frau.
Aber erst jeden Abend um elf riefen sie sich zusammen. Das war
einerseits sehr schön, weil sie ihre Stimmen hörten, vom Tag berichten und sich
aneinander ergötzen konnten. Für Ottakring war es darüber hinaus noch mehr: Die
spätabendlichen Anrufe waren eine Art Kontrollinstrument.
Wer weit weg in Finnland weilt, den hat man nicht im Griff.
Ottakring war da ein gebranntes Kind, was Lola anbetraf. Doch Schwamm
drüber, er wollte daran nicht mehr denken. Er hatte sich vorgenommen, Lola zu
vertrauen.
Damals, als sie vorgegeben hatte, einen Schulfreund zu besuchen,
hatte er ihr auch vertraut. Er schwebte in einem köstlichen Gefühl vollkommener
Sicherheit, als sie abgereist war – bis er von einem Augenblick zum
anderen in die Tiefe fiel. Es war die Hölle gewesen.
Viel Zeit, Disziplin, Nachsicht – und Liebe – hatte es
bedurft, bis er sicher sein konnte, sich wieder halbwegs auf seine Frau
verlassen zu können.
Mit Lola im Herzen und einem rissigen Porsche-Ledersitz von
unbestimmter Farbe unter sich begab er sich ein weiteres Mal auf die
windungsreiche Tour hinauf zur Grabmoosalm.
Donnerstags spielte die Musi. Er wusste, dass einer der Musikanten –
der Zitherspieler, meinte er gehört zu haben – der Initiator war und
jeder, der Lust hatte und spielen konnte, dazustoßen konnte.
Es dämmerte, als er den Porsche abstellte. Gerade noch, dass er
einen Parkplatz bekam, so voll war es. Kaum hatte er den Motor abgestellt und
die Fahrertür weit aufgestoßen, hörte er schon das rhythmische Pfummtataa der
Tuba.
Das erste Wesen, das ihn begrüßte, war die weiß-schwarze Tigerdogge.
Er musste sich gegen ihre riesige Zunge zur Wehr setzen.
»Ja, griaß di«, sagte er und strich ihr über den Kopf. Es fühlte
sich weich wie Samt an. »Wie heißt du denn?«
Als ob ein Hund ihm seinen Namen nennen könnte. Es war, als ob man
sich über einen Kinderwagen beugte und »Trilirilili, wer ist denn das schöne
Kind, trililirili?« sagte.
»Didiiiiiiiiiit«, hörte er, nachdem er beide Füße auf den Almboden
gesetzt hatte. Wie von Geisterhand war der Bub neben dem Hund erschienen.
»Didiiiit«, pfiff er.
»Aha, didiiiiiit«, pfiff Ottakring.
Den Jungen hatte er bei seinem letzten Besuch schon gesehen. Zwei
Stunden, bevor dessen Großmutter erschossen wurde.
»Und? Wie heißt du?«, fragte er, während drinnen hinter beleuchteten
Fenstern heiße Melodien ertönten.
Zither, Gitarre, Bass und Tuba, registrierte Ottakring im Stillen.
Das Kufstein-Lied, ein Hubert-von-Goisern-Song, dessen Titel ihm nicht einfiel.
Die Gäste drinnen sangen aus vollem Hals mit.
»Pfeiferl«, kritzelte der Pfeiferl auf einen Schmierzettel aus
seiner Hosentasche und pfiff stoßweise einen Rhythmus.
Aha. Ottakring erinnerte sich.
Den Namen des Jungen kannte er nicht, er hatte aber gehört, dass der
Bub seit dem Schussunglück, bei dem die Großmutter ums Leben gekommen war,
nicht mehr reden konnte. Er pfiff nur mehr.
»Pfeiferl«, entfuhr es ihm unabsichtlich.
Der Bub nickte und pfiff mit gespitzten Lippen:
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