Grabmoosalm (German Edition)
absagen?
Einen Augenblick blieb Rico zögernd hinterm Steuer sitzen. Dann nahm
er sein Handy zur Hand. Er wollte Jannat anrufen und sie informieren, dass er
etwas zu feiern hatte. Heute sollte die persische Küche kalt bleiben.
Manchmal ging ihm Jannat auf die Nerven. Sie besaß einen eisernen
Willen und einen stahlharten Kern. Eine Garantie dafür, dass sie fast immer
bekam, was sie wollte.
Aber sie hatte – sonst hätte er sie von vornherein nicht angefasst –
auch etwas Verwundbares. Ihre zarte Gestalt, die großen zimtfarbenen Augen,
ihre augenfällige Weiblichkeit. Sie arbeitete weltweit für eine große
Hochglanz-Modezeitschrift und war für den Glamour zuständig. Gott und die Welt
waren ihre »best friends« .
Die Beziehung bestand gerade einmal zweieinhalb Monate und war schon
zweimal zerbrochen. Doch nach zwei, drei Tagen hatte er dann eine SMS in seiner Mailbox entdeckt.
»Du fehlst mir« oder »I miss you« .
Englisch war ebenso ihre gemeinsame Sprache wie Deutsch. In ihrem
Freundschafts- und Bekanntenkreis sprach Jannat persisch. Sie hatten sich bei
einem persischen Fest kennengelernt, bei dem alle über offenes Feuer gesprungen
waren. In derselben Nacht schliefen sie miteinander, und seither waren sie
zusammen. Mehr oder weniger.
Heute Nacht drängte es ihn, zu ihr zu fahren.
Er hatte Sehnsucht.
Gedankenverloren starrte Rico auf den Scheibenwischer, der sich
mühsam hin- und herbewegte. Ein dünner Nieselregen hatte eingesetzt. Er
vermischte sich mit dem Schmierfilm auf der Windschutzscheibe und hinterließ
dicke Schlieren.
Rico schreckte auf. Das Handy vibrierte in seiner Hand, als ob es vorhätte
zu explodieren. Ein ankommender Anruf.
»Herr Stahl?«
Er sah auf das Display.
Das Präsidium.
Kein gutes Zeichen.
»Ja, Stahl hier. Wen sonst haben Sie unter dieser Nummer erwartet?«
»Es gibt eine Tote. Im Wohnstift Grandis. Bitte kommen Sie.«
Rico ließ das Fenster herunterfahren. Kühle Regenluft strömte in den
Wagen. Dann ließ er den Motor an.
Eine tote Frau im Grandis. Er spürte eine wachsende innere
Erregung. Seit Langem hatte er sich angewöhnt, am Telefon nicht nach Details zu
fragen. Er wollte unvoreingenommen an den Tatort kommen. Ebenso wussten sie im
Präsidium, dass die Rechtsmedizin und die Spurensicherung erst Minuten nach ihm
verständigt werden durften, um ihm die Möglichkeit eines Vorsprungs zu sichern.
Er wollte das Geschehen am Tatort unbelastet in sich aufsaugen. Es war gegen
die Regel, doch inzwischen hatten sie es kapiert. Ihm graute auch so jedes Mal
vor dem Anblick, der ihn erwartete.
Er passierte das Straßenschild »Alpenweg« und musste an den Mann
denken, der so offensichtlich mit der ermordeten Gülsüm Hastemir liiert gewesen
war. Franz Mühlhofer, der verheiratete Manager von Colatol, wohnte hier um die
Ecke.
An der Panoramakreuzung bog er rechts ab und nahm die
Umgehungsstraße, die nach eineinhalb Kilometern in die Innenstadt führte. Erstaunlich
leer, die Stadt. Natürlich, es war später Abend.
Lichter glänzten im nassen Schwarz der Straßen, Kreuzungsampeln
färbten es bunt.
Rechts ging es zur Adlerstraße, wo die tote Gülsüm mit ihren Eltern
gewohnt hatte.
Zwei Kilometer weiter Richtung Innenstadt zeigte vor der Kunsthalle
eine riesige Tafel die Ausstellung eines heimischen Künstlers an.
Kurz darauf schaute Rico auf die Uhr. Elf Minuten seit dem Anruf.
Noch geschätzte sechs Minuten, dann war er da. Er trat aufs Gas.
***
Schwester Clara hatte die Tote gefunden. Blutüberströmt
hatte sie in ihrem Büro auf dem Boden gelegen. Zuerst war Clara erschüttert
gewesen und wusste nicht, was sie mit dem Fund anfangen sollte. Dann wurde sie
aktiv.
Sie ging sehr behutsam mit der Leiche um. Bahrte den Leichnam auf,
als ob morgen die Beisetzung stattfinden sollte. Sie kürzte die Haare oben und
an den Seiten ein Stück weit und verlieh dem Kopf eine – wie sie dachte –
günstigere Frisur. Sie reinigte und schnitt die Fingernägel. Dann tauschte sie
die unreine Hose gegen einen geziemenden Rock, und zum Schluss – weil die
Füße in den abgetragenen Socken rochen – veranstaltete sie noch ein Fußbad
und wechselte die Strümpfe.
Den tiefen und ziemlich breiten Schnitt am Hals verklebte sie mit
zentimeterbreitem Hansaplast. Das hässliche Blut um die Wunde herum und am
Oberkörper hatte sie vorher entfernt.
Schwester Clara hatte nicht auf die Uhr geschaut. Später sollte sich
herausstellen, dass sie erst gute zwei Stunden nach dem
Weitere Kostenlose Bücher