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Grabmoosalm (German Edition)

Grabmoosalm (German Edition)

Titel: Grabmoosalm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannsdieter Loy
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geschah, konnte sich der Seppe später niemals erklären, und
er würde es nie vergessen.
    Er hob den Kopf, nur ein paar Zentimeter hoch. Seine Augen weiteten
sich und breiteten sich zur Seite und nach oben aus. Bis er nur mehr durch ein
einziges Auge blicken konnte, groß wie ein Fußballtor.
    Dahinter sah er eine kilometerweite ebene Landschaft, mittendrin ein
Wahnsinnshaufen von Steinen. Die sahen aus wie die Köpfe von Hunden und Kühen,
einige auch wie Schwammerl und Semmelknödel. Darunter war zertretenes raues
Gras, noch mehr Pilze, aber kleine, da und dort braune Erdhaufen, und auf jedem
saß etwas, das aussah wie ein Murmeltier.
    Da war jemand über ihm. Einer, der aussah wie sein Lehrer, nur viel
älter. Der Jemand fletschte die Zähne und grinste ihn an. Er öffnete die
Lippen, um etwas zu sagen. Doch der Seppe wollte es gar nicht hören. Er ließ
den Kopf wieder auf den Boden sinken.
    Er schluchzte. Das Bieseln da unten hatte aufgehört, aber es fühlte
sich an, als hätte er einen nassen Schwamm zwischen den Beinen.
    Er war allein auf der Welt. Wo war die Mama? Die Großmutter, die
Moserin, die Sissi? Deshalb presste er die Augen zu, um der Einsamkeit zu
entgehen.
    Allein auf der ganzen Welt.
    Wo war die Bella?
    Ihm war schwindlig.
    Komisch. In der Schule, im Sport, musste er einmal einen
Tausendmeterlauf machen, da war das Gefühl hinterher genau so gewesen.
Schwindlig.
    Der Seppe schloss die Augen, um der Einsamkeit und dem Schwindel zu
entgehen, und als er sie wieder öffnete, war alles weiß um ihn.
    ***
    Als Kriminalrat Ottakring mit dem Jungen auf dem Arm der
Grabmoosalm zustrebte, fiel ihm wieder der Schwefelgeruch auf. Dieser Geruch
wäre wohl von dem Odeur aus der Hose des Jungen übertönt worden, hätte
Ottakring sie ihm nicht ausgezogen und zurückgelassen.
    Er durchquerte Rehwiesen, umkurvte die Riesenfindlinge. Er war
vorsichtig, um nicht in einen Fladen zu treten, und bald danach hörte er von
Weitem schon Menschengemurmel. Es war fast dunkel geworden, und die Leute
trugen Fackeln, die gespenstisch durch die Bäume flackerten.
    »Die Resi hat uns gschickt.«
    Es waren Gäste aus dem Wirtshaus.
    Die Resi war einerseits erleichtert, dass ihr Bub wieder da war.
Andererseits schlug sie die Hände überm Kopf zusammen, weil er noch immer
ohnmächtig und in der Unterhose war.
    »Was haben Sie mit meinem Pfeiferl gmacht?«, fragte sie Ottakring
mit vorwurfsvoller Miene.
    Ottakring legte den reglosen Körper auf die Hausbank.
    »Gemacht? Ich hab ihn gerettet«, gab er mit ernster Miene zurück.
»Ich frage besser dich als Mutter, wie es kommt, dass der Bub
mutterseelenallein im Wald umherirrt.«
    Ein leises Schnaufen war vom Pfeiferl zu hören. Dann nieste er laut.
Er versprühte eine Wolke winziger Tropfen über sich und sprang von der Bank
auf.
    Er sah seine Mam und flog in ihre Arme.
    Die Resi putzte ihm die Nase ab und nahm sein Gesicht zwischen beide
Hände.
    »Wie schön, dass du wieder da bist«, sagte sie leise zu ihm. »Was
hast denn gmacht da draußen im Wald?«
    Der Seppe richtete sich auf. Er legte die Arme um seine Mutter und
zog sich an ihre Brust.
    »Dididitdaaadaditdit!«, pfiff er leise.
    »Warum bist du allein? Hast die Sissi ned mitgebracht?«
    Die Resi schob sich durch die Menschentraube und schaute Richtung
Wald. Sie hatte den Mund zu einer weiteren Frage geöffnet, die ihr nicht ganz
über die Lippen kam.
    »Meinst du diesen Hund?«, rief ihr einer mit markantem Gesicht und
Trachtenhut nach.
    Die Resi drehte sich um, und – richtig – da stand die
Sissi und schleckte dem Markanten die Hand. Dazwischen hechelte sie vor
Erschöpfung und wirkte, als hätte sie gegen Drachen gekämpft.
    Ottakring ging hin, packte die Dogge mit einer Hand am Halsband und
schleppte sie zur Resi. Mit der anderen Hand hakte er sich bei der jungen Frau
ein und zog sie zur Seite, wo es menschenleer und dunkel war.
    »Wer hat deine Mutter erschossen, möcht ich wissen«, zischte er. Er
registrierte, wie sich ihre Augen angsterfüllt weiteten. »Warst du es selbst?
Und warum?«
    Die Resi riss sich los. Ihr Gesicht war selbst im Halbdunkel so
grau, dass es zum Fürchten aussah.
    »Spinnst du?«, fragte sie kurz. Sicher wollte sie noch mehr sagen.
Aber ihre Tränen und die Schluchzer kamen als schrille, bittere, hemmungslose
Flut. Als hätte sie ihr Quantum an Selbstbeherrschung restlos aufgebraucht.
    Der Hund zwischen ihnen begann leise zu winseln.
    Eine halbe Minute lang ließ Ottakring beide

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