Grabmoosalm (German Edition)
Leichenfund im Klinikum
angerufen hatte. Als ob da noch etwas zu retten gewesen wäre.
Das Klinikum schickte aufgrund ihrer Schilderung den Notarzt.
Erst der verständigte schließlich die Polizei.
***
Draußen war es halb hell. Die altertümlichen Lampen
spendeten mildes Licht. Rico Stahl umging die unvermeidlichen Stinkeimer, die
vor dem geöffneten Metalltor geparkt waren, und stieg die drei Stufen zum
Innenhof hinauf. Er hielt kurz inne, um sich umzuschauen. Im oberen Stockwerk,
dort, wo er schon zu tun gehabt hatte, brannte Licht. Alles war friedlich.
Es war seltsam.
Wenn es hier eine Tote gab, erfuhr das die Polizei nur, wenn der
Arzt keinen natürlichen Tod bescheinigen konnte. Wenn der Sterbevorgang nicht
mit rechten Dingen zugegangen war. Im Zweifelsfall also Fremdeinwirkung. Wieso
war dann niemand hier? Das wollte er als Erstes klären. Verdammte Bürokratie.
Er wollte nicht das ganze Haus wecken. Deshalb ließ er die Zugglocke
am Eingangstor links liegen, zupfte sich die Krawatte zurecht und pochte mit
den Knöcheln kraftvoll gegen die Tür.
»Herein«, rief eine dünne Stimme.
Er stieß die schwere Tür mit der Schulter auf und trat in die
Dunkelheit.
»Hallo?«
»Sie sind sicher von der Polizei. Ich bin dahinten. Treten Sie näher.«
Seine Augen tasteten sich langsam vor.
Eine Ordensschwester mit der Visage eines Raubvogels saß am Empfang.
Ihr scharfer Blick war von derselben traurigen Farbe wie das Ordensgewand, das
sie trug.
»Ich bin Schwester Clara«, sagte sie.
»Was ist passiert, Schwester Clara?«, fragte Rico Stahl.
Wortlos führte sie ihn zum Büro der Heimleiterin, das gleich neben
der Eingangshalle lag.
Aus den oberen Etagen waren Schreie und zorniges Gemurmel zu hören.
Der süßliche Duft faulenden Obsts oder Gemüses lag in der Luft.
Schwester Claras kühn gebogene Nase zuckte. Mit der linken Hand
strich sie die weiße Kapuze glatt. Ihre rechte fuhr aus dem schwarzen
Ordensgewand und wies einladend zur Tür.
Behutsam legte Rico die Hand auf den Türgriff.
In diesem Augenblick tobte sein Handy in der Tasche.
In der Stille der Halle und des hohen Flurs klang das Geräusch wie
die Trompeten von Jericho.
Er sah kurz auf das Display.
Es war Chili.
»Ja?«, sagte er. »Ist es dringend?«
»Sonst würde ich Sie nicht mitten in der Nacht anrufen.«
Es folgte eine bedeutungsvolle Pause.
»Wir haben etwas gefunden. Im Müllcontainer. Wollen Sie’s sehen?«
Natürlich wollte er es sehen. Aber er konnte sich nicht zweiteilen.
Erst musste er die Leichenschau durchführen. Das sagte er Chili.
»Ich werde mich melden, sobald ich hier fertig bin.«
Er bekräftigte den Satz mit einem Nicken.
Anschließend drückte er die Klinke.
»Avemariapurissima«, flehte die Schwester.
Sie schlüpfte unter seinem Arm hindurch und drückte den Lichtschalter.
Eine etwas zittrige Sparlampe tauchte den Raum in schummriges Licht.
Rico verharrte reglos auf der Schwelle.
Er war fassungslos über das Bild, das sich bot.
Der Raum war ihm von seinem einmaligen Besuch bei der Unruh bekannt.
Er war etwa sechs Meter lang und dreieinhalb Meter breit und spärlich
eingerichtet.
Auch die Unruh selbst erkannte er sofort. Sie sah sehr tot aus.
Barbara Unruh lag auf ihrer schmalen Liege an der rechten Wand und
hatte die Hände auf dem Bauch gefaltet. Ihr ohnehin nicht sehr gepflegtes Haar
wirkte wie abgemäht. Beim letzten Mal hatte sie keinen Rock angehabt. Im Tod
trug sie einen. Ein Paar schwarze Pumps stand säuberlich neben der Liege. Auf
dem winzigen Arbeitstisch stand ein dünner Strauß Blumen in einer gläsernen
Vase.
Was Rico jedoch am meisten irritierte, war der breite Streifen
Hansaplast quer über dem Hals. Er machte zwei Schritte vorwärts. Erst jetzt war
es ihm möglich, Reste von verwischtem Blut auszumachen.
Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, hinter der es
sekundenlang öd und leer war. Als er sich halbwegs gesammelt hatte, wandte er
sich langsam um. Er hatte das Gefühl, schneeweiß im Gesicht zu sein.
Die Schwester war nicht von der Stelle gewichen. Sie hob einen
Mundwinkel und verzog das Gesicht, was wohl ein zufriedenes Lächeln andeuten
sollte. Als ob sie ein Lob erwartete.
»Ha, welches Arschloch …«, begann Rico.
Doch dann wurde ihm bewusst, dass seine Wortwahl in dieser Umgebung
unangemessen war. Stattdessen verzichtete er auf vorwurfsvolle Blicke, zog die
Tür hinter sich halb zu und zückte sein Handy.
Die Schwester war allein mit ihrer
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