Grabmoosalm (German Edition)
Blumen der
verschiedensten Art. Meist, wenn Joe oder Lola daheim waren, stand die Haustür
offen, um frische Luft hereinzulassen, und aus einem Fenster im ersten Stock
flatterte nicht selten ein blauer Baumwollvorhang im Wind, als stünde dort
jemand, der freudig zur Begrüßung winkte. Heute waren Haustür und Fenster
geschlossen.
Ottakring saß in seinem Wagen und drehte den Zündschlüssel. Nichts
tat sich. Auch die nächsten Versuche schlugen fehl.
Einer, der gewöhnlich alle Reparaturen und Inspektionen selbst
durchführt, sollte nicht verlegen sein, solch eine lächerliche Panne
auszumerzen. Er prüfte den Zündkontakt und reinigte die Kerzen. Zum Schluss war
er ratlos. Er rief den ADAC .
»Eahna Batterie is im Eimer!«
Ottakring zuckte zusammen. Er, der beste Automechaniker auf
bayerischem Boden, hatte es unterlassen, die Batterie zu prüfen. Das war, als
hätte er an einer Leiche das Messer übersehen, das im Rücken steckte.
Es war ein himmlisches Geräusch, endlich den Kies knirschen zu
hören, über den sich die vier Räder vorsichtig bewegten.
Er hatte nicht vor, die verlorene Zeit durch überhöhte Geschwindigkeit
wieder aufzuholen. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Zumindest war das seine
Absicht gewesen, bevor er losfuhr. Doch irgendwie geriet er in Rosenheim in
einer engen Kurve hinter dem Brückenberg ins Schleudern, streifte einen mit
Holzstämmen beladenen Laster, fluchte und fuhr wieder auf seine Straßenseite
zurück.
Genervt und mit Abschürfungen an der linken orangefarbenen
Frontseite kam er am Wohnstift Grandis an. Im schwachen Wind flatternde
weiß-rote Bänder am Eingang alarmierten ihn. Er ließ den Wagen im Halteverbot
stehen und sprang über die Straße.
Totenstille.
Lediglich die Bänder bewegten sich im Wind.
Was hier wohl passiert war? Sofort musste er an die Vorgänge auf der
Grabmoosalm denken. Vorsichtig, als sei er der Hauptverdächtige, stieg er über
die Absperrung, als sein Handy klingelte. Er blickte aufs Display. Seine
frühere Dienstnummer!
»Stahl. Sind Sie selbst dran, Herr Ottakring?«
»Ja. Und ich bin allein und unbewaffnet«, entfuhr es Ottakring.
Der Ton seines Nachfolge-Kollegen hatte ihm noch nie geschmeckt.
»Könnten Sie so rasch wie möglich zu mir ins Präsidium kommen?«
»Gleich. Ich bin gerade im Grandis. Hier ist irgendwas los«, sagte
Ottakring. »Worum geht es? Können wir das nicht am Telefon besprechen?«
Er war langsam auf das Gebäude zugegangen. Nun stand er an der Tür,
die nur angelehnt war. Er drückte sie langsam mit dem Knie auf.
»Nein, Herr Kollege.«
Stahls Stimme sollte wohl beruhigend klingen. So als ob man einen
alten Mann vor Aufregungen schützen will.
»Ich brauche Sie hier. Bitte. Den Weg kennen Sie ja.«
***
»Da schau her«, sagte im Grandis die Ottakring zur
Moserin. Sie hatte die Zeitung aufgeschlagen und hielt sie ihrer Freundin vor
die Nase.
»Mädchen vermisst.«
Die Moserin schaute kurz auf, nahm den nächsten Bissen auf die Gabel
und aß weiter. Hunger verspürte sie nicht, aber die Pflegerin stand hinter ihr.
»Haben Sie das gehört, Frau Moser?«, sagte die. »Mädchen vermisst.
Interessiert Sie das nicht?«
Die Patientin setzte die Brille ab.
»Ich?«, sagte sie mit fester Stimme. »Werd ich vermisst?« Sie schluckte
den unzerkauten Bissen hinunter. »Warum? Ich bin doch hier?«
Die Moserin.
Sie, die ihr Leben lang darauf geachtet hatte, stets sauber und
adrett gekleidet zu sein, trug jetzt ein schmieriges Kleid, befleckt vom
Apfelmus des gestrigen Abendnachtischs, vermüllte Schuhe und eine Paketschnur
um den Hals, von der sie wahrscheinlich glaubte, es sei eine Perlenkette. Das
graue Haar fiel ihr strähnig ins Gesicht, und die Hände zitterten. Die Moserin
war zwar alt, neunundsiebzig, aber aussehen tat sie wie die Älteste aus dem
Guinnessbuch der Rekorde.
Die Hand ihrer Freundin, die sich ihr entgegenstreckte, übersah sie.
»Du spinnst«, sagte Gretl Ottakring. »Ein elfjähriges Mädchen wird
vermisst. Nicht du.«
Die Pflegerin setzte sich neben die Moserin und wartete, dass die
Patientin etwas sagen würde. Aber die Patientin sagte nichts. Sie schüttelte
nur den Kopf und spießte den nächsten Bissen Curryhuhn auf die Gabel.
Gretl Ottakring langte über den Tisch und schnipste mit Daumen und
Zeigefinger. »Hast du gehört, Moserin? Ein Mädchen. Elf Jahre. Könnt glatt
deine Tochter sein.«
***
»Sie sind der Letzte, der Barbara Unruh gesprochen hat«,
sagte Rico Stahl
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