Grabmoosalm (German Edition)
hatte, den sie sich angeblich eingefangen hatte. Nur von dem kaputten
Knöchel hatte sie berichtet.
Am liebsten hätte er den nächsten Flieger nach Helsinki genommen.
Die Stadt kannte er ohnehin nicht, er war noch nie in Finnland gewesen. Was
wäre, wenn er dieses Vorhaben verwirklichen und Lola überraschend von ihrer
Tagung abholen würde? Ein verlockender Gedanke. Doch weitergesponnen barg er
eine Zeitbombe. Was, wenn er sie wieder mit einem Liebhaber anträfe wie damals
auf Malta? Nicht auszudenken! Er kam zu der Erkenntnis, dass er dieses Risiko
nicht eingehen würde, selbst wenn er alle Zeit der Welt hätte.
Dazu kam die Verpflichtung, sich um seine Mutter zu kümmern. Obwohl
sich seine Liebe zu ihr in Grenzen hielt, hatte er sich geschworen, in ihrer
Nähe zu bleiben, solange ihr Zustand sich nicht besserte. Nach menschlichem
Ermessen bliebe der aber erhalten. Alzheimer bessert sich nie. Er ändert sich
vielleicht, hatte er von den Spezialisten erfahren müssen, die Stimmungen schwanken,
und maximal hält sich die Krankheit in der Waage. Doch bessern – nein,
unmöglich, sagten sie ihm alle. An vollkommene oder auch nur teilweise Heilung
war nach derzeitigem Stand der Wissenschaft überhaupt nicht zu denken.
Und natürlich, der Mord auf der Alm – für ihn stand fest, dass es
Mord war – verfolgte ihn Tag und Nacht. Besser gesagt, die Auflösung des
Mordfalls.
Und wer wäre besser dafür geeignet als der pensionierte Kriminalrat
Ottakring? Jedenfalls in seinen eigenen Augen.
Die Trauerfeier war einer amtierenden Almbäuerin würdig
gewesen. Alle Alten und viele Junge hatten sich vor der Dorfkirche versammelt
und waren getrennt nach Manner- und Weiberleit hineingegangen. Der Frauenchor
sang, Zither und Hackbrett spielten, grad schön war’s.
Auf die Todesart ging der Pfarrer in seiner Ansprache nicht ein. Was
hätte es geholfen? Einem Hund war ebenso wenig eine Schuld zuzuweisen wie einem
Oachkatzl. Der Todesverursacher, der Hund also, war eh nicht unter den
Trauergästen.
Dafür aber Joe Ottakring. Er stand – breit und groß – in
der hintersten Reihe, obwohl noch Sitzplätze frei gewesen wären. Er trug ein
borstiges altgrünes Trachtensakko mit Hornknöpfen und eine Lederjeans.
Lola, seine Frau, hätte ihm bestimmt zu etwas anderem geraten. Doch
Lola Herrenhaus weilte als Programmchefin des Bayerischen Fernsehens bei einem
Fernsehprogrammüberdenkungskongress in Finnland. Dieser Umstand verursachte bei
Ottakring große Bauchschmerzen.
Schon einmal hatte Lola ihn belogen und betrogen.
Aus dem Hintergrund sah er sich die Leute an. Kaum einer dieser
Visagen hätte er getraut. Keinem hätte er hundert Euro zur Aufbewahrung
überlassen. Keinem hätte er eine Wahrheit anvertraut, wenn es drauf angekommen
wäre.
Ganz vorn saß die Resi. Sie war mit ihren sechsundzwanzig Jahren
jetzt die Almbäuerin. Sie hielt den Kopf gesenkt, er konnte nicht erkennen, ob
sie nasse Augen hatte. Neben ihr saß der Bub. Dessen Namen wusste er nicht
mehr.
Die alte Moserin, das hatte er vorher schon erfahren, war im
Wohnstift Grandis geblieben. Nicht, weil sie nicht den Wunsch erkennen ließ,
aus freien Stücken an der Beerdigung teilzunehmen, sondern weil sie vom Tod
ihrer Tochter nichts zu wissen schien. Somit war die Frage, ob sie aus dem
Stift zur Beerdigung zum Friedhof zu schaffen sei oder nicht, geklärt gewesen.
Die Frage auch, ob man ihr den Schmerz über den Tod ihrer Tochter ersparen
solle. Die Moserin blieb mit ihren Freunden im Grandis.
Er trat aus der Kirche und marschierte hinter den anderen her zum
Grab, wo die Urne beigesetzt werden sollte. Der übliche Qualm und Gestank der
Papierfabrik lag in der Luft. Lieber wäre ihm der Zigarettenqualm in einem
Wirtshaus gewesen, fand er. Doch in dieser Gegend, droben wie drunten im Tal,
gehörte dieser Gestank einfach dazu wie der Tod zum Leben.
Als er später an diesem Tag den Porsche aus der Garage
holen wollte, um zum Grandis zu fahren und nach der Mutter zu schauen, stellte
sich heraus, dass die Absicht dahinter zwar eine gute war, die Entscheidung
jedoch falsch.
Joe Ottakring und Lola Herrenhaus wohnten nun schon seit Jahren in
ihrem Haus in einer wenig befahrenen Nebenstraße. Das Gemäuer war in einem
sanften Gelbton gestrichen, hatte einen steilen Giebel, grüne Fensterläden und
keine richtige Einfahrt. Es gab nur einen kurzen, kiesbestreuten Weg zwischen
der Straße und der Garage.
Im Sommer war der Garten eine einzige Pracht blühender
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