Graciana - Das Rätsel der Perle
offiziellen Auftrag, Graciana zu finden.
Du lieber Himmel, in welche Situation ihn dies brachte! Sollte er vielleicht noch dazu beitragen, Graciana geradewegs zu ihrem Opfer zu führen? Damit sie den Herzog um so leichter umbringen konnte?
Ludo de Mar hatte in den vergangenen Tagen gelernt, das Schweigen seines Herrn zu respektieren, wenn dieser düster grübelnd vor dem Kamin saß und in den Flammen Bilder zu sehen schien. Auch heute kehrte Kérven in dieser seltsamen Laune vom Rat des Herzogs zurück. Er griff nach dem Gewürzwein, der für ihn bereitstand, und stellte den Becher wieder fort, ohne einen Schluck daraus getrunken zu haben. Er rollte Pergamente auf und legte sie ungelesen wieder weg. Schließlich hockte er wieder vor dem Feuer. Versunken und in sich gekehrt, mit seinen Gedanken in einer Welt, die Ludo nicht kannte.
»Hast du jemals etwas über das Kreuz von Ys gehört, Ludo?«, fragte er so unerwartet, dass seinem Knappen fast das Schwert entglitten wäre, welches er mit Hingabe polierte.
»Natürlich, Messire«. Der Junge nickte. »Es ist das Kreuz des wahren Herrschers der Bretagne. Die Sterne von Armor schmücken es und symbolisieren das Land. Man sagt, wenn es wieder auftaucht, wird die Bretagne unter dem Nachfolger König Gradlons eine unendlich lange Zeit des Friedens und des Wohlstandes erleben! Wie schade, dass seine Gnaden der Herzog es nicht in seiner Schatzkammer gefunden hat!«
»Und wo, glaubt man, sei dieses Kreuz zu finden?«, erkundigte sich Kérven des Iles in zunehmender Neugier. Er hatte nicht erwartet, dass Ludo zu diesem Thema etwas vorzubringen wusste.
»Man sagt, dass es sich unter den Schätzen der Fee Viviane im Wald von Brocéliande befindet«, erzählte Ludo. »Es wird von weisen Frauen bewacht, bis der richtige Herrscher seiner Hilfe bedarf!«
»Weise Frauen«, wiederholte Kérven und runzelte die Stirn. Ein flüchtiger Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Gracianas manchmal so fromme, gelehrte Bemerkungen fielen ihm ein. »Nonnen sind auch weise Frauen – oder was meinst du, Ludo?«
»Wie man’s nimmt, Seigneur«, entgegnete der Page keck. »Meist sind sie eher fromm als schlau!«
Kérven lachte und trank endlich seinen Gewürzwein. Dann runzelte er erneut die Stirn und versuchte sich zu besinnen. Es gab nicht sehr viele Nonnenkloster in der Bretagne. Lag nicht eine dieser frommen Zufluchten in der Nähe von Auray? Es hatte ihn nie sonderlich interessiert, aber plötzlich ließ es ihm keine Ruhe. Graciana hatte weder Kutte noch Schleier getragen, aber eine junge Frau mit ihrer außergewöhnlichen Schönheit, ihrer Bildung, die in ihrem Alter noch Jungfrau war, die verblüffende Tüchtigkeit mit ebenso entwaffnender Naivität verband ...
Doch wie passte dies zu ihren Albträumen? Zu ihrem Mordplan und jenem Rätsel, das sie an Paskal Cocherel band?
Es war stets das gleiche, sobald er glaubte, ein winziges Stück des Schleiers gelüftet zu haben, der sie umgab, entdeckte er darunter nur ein neuerliches Geheimnis!
Das Licht blendete Graciana, und sie schloss die Augen. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit sie in diesem stinkenden Loch verbracht hatte. Irgendwann war sie eingeschlummert, aber die kleinen Tiere, die an ihren Beinen hochkrabbelten, und die übrigen Geschöpfe der Dunkelheit, deren Bewegungen sie um sich herum spürte, hatten sie aus ihrer gnädigen Betäubung gerissen. Sie hatte versucht, sich aufzurichten, aber vergeblich. Ihre Beine gaben immer wieder nach und wollten sie nicht mehr tragen.
Inzwischen war sie jenseits von Hunger oder Durst, von Angst oder Trauer, von Schmerzen oder Müdigkeit. Ihren Geist hatte sie lebendig erhalten, indem sie an Kérven dachte und an die Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten. An die wenigen Stunden der Liebe, die sie in den Armen von Kérven des Iles erfahren hatte.
Wie töricht sie doch gewesen war, mehr zu wollen und ihren dummen Stolz über ihr Herz zu stellen. Wen kümmerte es, was sie tat? Welche Sünden sie auf sich lud oder welche sie vermied?
Den Himmel? Ihr kindlicher Glaube an die göttliche Gerechtigkeit hatte sich in den Flammen von Sainte Anne aufgelöst. Seitdem vermochte sie nicht einmal mehr zu beten, wie man es sie gelehrt hatte, die Worte wollten ihr einfach nicht mehr über die Lippen kommen.
»Sie ist ohnmächtig!«, hörte sie jemanden sagen, während sie die Augen weiterhin geschlossen hielt.
»Dann hol Wasser, damit sie wieder zu sich kommt!«
Schritte entfernten sich, kamen
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