Graciana - Das Rätsel der Perle
Iles ragte bedrohlich vor dem entgeisterten Pagen auf, der ihn eben an seinen Platz geleitet hatte. Noch nie hatte sich ein Seigneur darüber beschwert, neben einer so schönen Edeldame zu sitzen!
»Du hast dich getäuscht!« Der Graf von Lunaudaie versuchte seine Stimme zu dämpfen. »Es kann nicht sein, dass dieser Platz für mich bestimmt ist!«
Der kleine Page straffte die Schultern. Tapfer nahm er seine Aufgabe wahr.
»Die Tischordnung wurde von Ihrer Gnaden der Herzogin persönlich bestimmt«, erwiderte er fest. »Es wurde befohlen, dass Ihr neben der Dame de Cesson Platz nehmen sollt!«
»Zum Henker ...«
Der Fluch rutschte Kérven in seinem Zorn heraus, und Gracianas blasse Wangen röteten sich in aufflammender Empörung.
»Wenn es sich nicht mit Eurem Stolz verträgt, neben mir zu sitzen, Messire«, fauchte sie mindestens so wütend wie er, »dann seid Ihr gewiss entschuldigt! Ich lege keinen Wert auf Eure Gesellschaft!«
Leichte Röte färbte Gracianas Wangen, während sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr seine Ablehnung sie kränkte. Natürlich war sie sich der Tatsache bewusst, dass sie nicht gut genug für ihn war, aber musste er es vor allen Leuten verkünden?
»Nein«, knurrte Kérven. »Sich den Anweisungen der Herzogin zu widersetzen würde nur unnötigen Klatsch hervorrufen. Ihr werdet meine Gesellschaft wohl ertragen müssen ...«
»Wenn Ihr mich so freundlich dazu auffordert, Messire ...«
Graciana spürte ein unbekanntes Brennen in ihren Augen, und sie blinzelte gegen das Licht der zahllosen Kerzen. Die Aufregung, die sie eben noch verspürt hatte, sank in sich zusammen. Sie faltete die Finger im Schoß, damit man ihr Zittern nicht bemerkte. Welch bitterböser Streich, dass sie ausgerechnet neben dem einzigen Edelmann saß, den sie um jeden Preis hatte meiden wollen.
Er wusste, woher sie kam und was sie war. Er würde sie immer daran erinnern, dass sie im Grunde nur eine Magd war.
Eine willige Dirne, die in seinen Armen dahinschmolz, sobald er sie berührte. Die ihn auf dem Stroh im Stall angefleht hatte, sie zu nehmen!
Wie konnte sie es ertragen, einen Abend lang Teller und Becher mit ihm zu teilen? Ihn so nahe zu spüren, dass sie die Mischung aus Lavendel und Iris roch, die aus seinem Wams aufstieg.
Dass Kérven betont Abstand von ihr hielt, führte sie auf seine Verachtung zurück. Er trank mehr Wein als gewöhnlich, und auch dies schien ihr ein Zeichen für seinen mühsam beherrschten Zorn. Er konnte es nicht ertragen, neben ihr zu sitzen. Sie tat ihr Bestes, um ihren Kummer zu verbergen, aber sie konnte nicht verhindern, dass die Luft zwischen ihnen vor Spannung förmlich knisterte.
Kérven schmeckte weder, was er aß, noch was er trank. Er ließ seine Blicke durch den Saal schweifen und begegnete jenen des Waffenmeisters. Pol de Pélage saß ihnen schräg gegenüber und hatte die mächtigen Arme über dem Wams verschränkt. Es lag ein so seltsamer Ausdruck in seinen Augen, dass der junge Seigneur unwillkürlich die Stirn runzelte.
Ein Vorwurf? Eine Warnung? Nahm der Waffenmeister sein selbstgewähltes Amt als väterlicher Beschützer Gracianas so ernst, dass er sich anmaßte, ihn in aller Öffentlichkeit zu rügen?
»Was hast du Pol de Pélage alles erzählt?«
Graciana zuckte bei dem angespannten Klang seiner Stimme zusammen. Kérven kam ihr vor wie eine überdehnte Bogensehne, die jeden Moment zu reißen droht. Hinzu kam, dass er sich nicht einmal die Mühe einer höflichen Anrede machte. Für ihn blieb sie die Schlampe, die man duzte!
»Die Wahrheit«, entgegnete sie.
»Die Wahrheit«, wiederholte er beschämt und griff nach dem Weinbecher. In einem Zug stürzte er den Inhalt hinunter und Graciana schaute ihn in einer Mischung aus Erstaunen und Empörung an.
»Müsst Ihr so viel trinken?«, platzte sie heraus und bewirkte damit das, was sie beide unbedingt hatten vermeiden wollen: nämlich einander in die Augen zu sehen.
Wie schrecklich traurig und grimmig er doch erschien! Scharfe Falten in Nasen- und Mundwinkeln, die Augen vom düsteren Blau eines heraufziehenden Gewitters. Im letzten Moment konnte sie die Hand zurückziehen, die sie schon ausgestreckt hatte, um sie zärtlich an seine Wange zu legen.
Sie wollte die Falten fortküssen und seine Augen zum Leuchten bringen, aber sie hatte nicht das Recht dazu. Auch Graciana de Cesson hatte kein Recht dazu.
Kérven des Iles, der sich sonst so viel auf seine Menschenkenntnis zugute hielt, sah nur
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