Graciana - Das Rätsel der Perle
die letzten Scherben klirrten zu Boden. Er starrte auf die Wunde und hatte offensichtlich keine Ahnung, wie das Missgeschick passiert war. Hastig griff er nach dem Tuch und drückte den klaffenden Schnitt in seiner Hand zusammen.
»Verzeiht, ich war ungeschickt«, murmelte er heiser und wickelte den Stoff um die Wunde. Er sah nicht, dass der Herzog den anderen Herren mit einer Geste bedeutete, dass sie sich zurückziehen sollten.
Der eine oder andere viel sagende Blick blieb an Kérven hängen. Sie alle erinnerten sich nur zu gut an seine Schilderung des rätselhaften Mädchens, das ihm vor Auray in die Arme gelaufen war. Wer hätte gedacht, dass sie gemeinsam Zeugen der abenteuerlichen Fortsetzung dieses Berichtes werden würden?
Kérven indes verweigerte sich den stummen Fragen. Der brennende Schmerz in seiner Hand, der ihm plötzlich zu Bewusstsein kam, war nichts im Vergleich zu der Scham, die er fühlte. Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gab, dem er entsetzliches Unrecht getan hatte, dann war es Graciana! Was hatte er sie nicht alles genannt? Dirne, Lügnerin, Mörderin! Sie hatte ihm heilige Eide geschworen, dass sie die Wahrheit sagte, doch er hatte ihr kein Wort geglaubt. Er hatte sie bedroht und sich ihr aufgezwungen. Er hatte ihre Tränen missachtet, ihre Bitten und ihren Stolz.
Was hatte sie ihm vorgeworfen? Er sei um keinen Deut besser als die Söldner Cocherels? Sie hatte die reine Wahrheit gesagt!
»Wenn Ihr damit fertig seid, Euch selbst zu verurteilen, dann könnt Ihr mir vielleicht die eine oder andere Frage beantworten«, sagte Jean de Montfort in Kérvens düstere Betrachtungen hinein. »Immerhin begreife ich jetzt, welchen Ursprung die Krankheit hat, die Euch um Ruhe und Schlaf bringt, mein armer Freund! Diese junge Frau ist nicht wie andere Damen!«
Kérven sah gequält auf und schloss die Faust um das Tuch. Der Schmerz fügte sich nahtlos zu der übrigen Pein, die ihn erfüllte. Graciana war in seinen Augen ohnehin einmalig.
»Ich habe mich wie das letzte Scheusal benommen«, brach es bitter aus ihm heraus. »Ich bin es nicht wert, ihr den Saum des Gewandes zu küssen. Ich kann nur hoffen, dass Ihr einen edlen Gemahl für sie auswählt, der sie auf Händen trägt und für all das Unglück entschädigt, das sie bisher erleiden musste.«
»So seid Ihr also der Meinung, dass ich einen Gatten für die schöne Graciana suchen müsste?«, forschte der Herzog.
»Wie sonst sollte sie Cesson halten können?«, murmelte Kérven, um Fassung bemüht. Er mochte bis in die Seele hinein erschüttert sein, aber das hatte seinen Verstand nicht völlig vernebelt.
Jean de Montfort verschränkte die Arme vor der breiten Goldkette, die er auf seinem purpurfarbenen Samtwams trug. »Nun, ich denke, wir werden Frieden haben, da sollte es keine unlösbare Aufgabe sein, und wie es scheint, ist der Dame im Kloster der Unterricht einer künftigen Äbtissin zuteil geworden. Sie wäre nicht die erste Burgherrin, die zur Zufriedenheit ihres Lehnsherren herrscht.«
Kérven merkte nicht, dass der Herzog gespannt auf seine Reaktion lauerte.
»Das könnt Ihr nicht tun! Sie benötigt Schutz!«, brauste er auf. »Die Burg von Cesson muss doch erst einmal wieder in Ordnung gebracht werden. Wenn die Schäden nur halb so groß wie in Lunaudaie sind, ist es schlecht um ihre Verteidigung bestellt. Und dann ist da noch die Sache mit diesem Kreuz ...«
Ein anerkennendes Lächeln glitt über das Gesicht seines Herrschers. Sogar verzweifelt und abgelenkt, hatte Kérven des Iles die Fähigkeit, seine Gedanken auf die wichtigsten Dinge zu lenken. Nicht umsonst zählte er zu seinen klügsten Ratgebern!
»Wenn es sich nun beim Geheimnis ihres Klosters um das Kreuz von Ys gehandelt hat, ist sie in Gefahr!«, fuhr der Graf fort. »Wenn die Perle, die sie bei sich hatte, der Schlüssel zu dem Geheimnis ist, dann besitzt auch Paskal Cocherel dieses Wissen. Habt Ihr vergessen, dass er die Äbtissin des Klosters gefoltert hat? Weshalb sollte er das getan haben? Er ist machthungrig und grausam, aber selbst er wäre nicht unbedingt wegen nichts so weit gegangen. Es hätte genügt, die wenigen Schätze des Klosters zu rauben und sich aus dem Staub zu machen. Es sei denn, er ahnte, dass diese Mauern einen Reichtum besonderer Art bargen.«
»Ihr meint, er hat den Aufruhr der Schlacht ausgenützt, um Sainte Anne d’Auray zu überfallen und das Kreuz zu erbeuten, das er dort vermutete?«
»Ich bin mir dessen sicher.« Kérven nickte.
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