Graciana - Das Rätsel der Perle
»Was ich freilich immer noch nicht begreife, ist, weshalb Graciana aus meinem Hause geflohen ist. Wohin ist sie gegangen? Zu Cocherel? Weshalb sollte sie das tun? Sie hat ihren Vater offen des Mordes und der Folter bezichtigt. Wie ist sie überhaupt in die Burg gekommen? Die Wachen haben strengen Befehl, nicht einfach jeden Fremden hereinspazieren zu lassen?!«
»Sie kannte ein geheimes Passwort«, gab der Herzog zu und begegnete dem Blick Kérvens mit völlig nichts sagender Miene.
»Ein Passwort«, wiederholte Kérven sinnend. »Ein Passwort, von dem Ihr mir nicht sagen wollt, was es bedeutet und weshalb sie es kannte?«
»Nicht, ehe ich ihr selbst diese Fragen gestellt habe«, erwiderte der Herzog.
Kérven seufzte resigniert. Er hatte nichts anderes erwartet. »Immerhin, in Anbetracht aller dieser Tatsachen müsst Ihr zugeben, dass diese junge Frau ganz besonders den Schutz eines vertrauenswürdigen Ritters benötigt! Sie ist in Gefahr!«
»Verlasst Euch auf mich, ich werde für sie sorgen.« Der Herzog legte freundschaftlich eine Hand auf Kérvens Arm. »Was jedoch das Kreuz von Ys betrifft, so sollte es fürs erste eine Legende bleiben. Je weniger Leute von der Möglichkeit wissen, dass es tatsächlich existieren könnte, um so besser ist es für uns. Sollte die Perle zu den Sternen von Armor gehören, wird die Dame de Cesson es bestätigen können ...«
»Aber sie sagte, die Perle sei ihr rechtmäßiger Besitz«, erinnerte Kérven, der nicht einmal diese Tatsache mehr zu bezweifeln wagte. »Ihr werdet sie dafür entschädigen müssen, wenn Ihr das Kleinod zu besitzen wünscht.«
»Und Ihr?«, erkundigte sich der Herzog, ohne auf die Bemerkung einzugehen. »Was gedenkt Ihr in Bezug auf die Dame de Cesson zu tun?«
»Ich bitte um die Erlaubnis, den Hof verlassen zu dürfen.« Kérven verneigte sich steif. »Mein Anblick soll sie nicht an ihr Schicksal erinnern. Ich hoffe, dass sie mich ebenso vergisst wie die schreckliche Zeit, die hinter ihr liegt!«
»So wollt Ihr Weihnachten nicht in Rennes mit Euren Freunden feiern?«
Kérven schüttelte nur den Kopf.
»Aber wir sehen Euch wenigstens noch heute Abend beim Bankett ...«
»Eigentlich wollte ich ...«
»Das ist ein Befehl, mein Freund!«
Der Graf von Lunaudaie verneigte sich, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen. Immerhin würde das Bankett genügend Leute versammeln, dass es sowohl ihm wie auch Graciana möglich sein würde, einander aus dem Wege zu gehen. Wenigstens dies konnte er für sie tun.
»Der Gedanke, die Verzeihung der Dame de Cesson zu suchen, ist Euch nicht zufällig gekommen?«, fragte der Herzog plötzlich. »Ich könnte ein gutes Wort für Euch einlegen, mein Lieber!«
»Sie hat keinen Grund, mir zu verzeihen«, erklärte Kérven. »Sie hasst mich und verabscheut mich, und das mit Recht! Ich hasse mich selbst für das, was ich ihr angetan habe!«
»Aber gleichzeitig liebt Ihr sie auch, wie mir scheint ...«
Kérven warf dem Herzog einen Blick zu, in dem sich so tiefe Qual spiegelte, dass jedes Wort überflüssig wurde. Diese Liebe war seine Strafe. Die perfekte Folter für einen ausgemachten Narren. Er hatte das reine Glück in seinen Händen gehalten und hatte es in nachlässiger Arroganz zerschlagen.
»Es ändert nichts an den Dingen«, sagte er in dumpfer Verzweiflung. »Ich kann ihr meine Liebe nur beweisen, indem ich ihr meinen Anblick erspare. Indem ich ihr zeige, dass wenigstens noch ein Rest von Ehrgefühl und Scham in meiner Brust steckt ...«
»Ihr geht zu hart mit Euch ins Gericht!«
»Erlaubt, dass ich mich zurückziehe!«
Der Herzog begriff, dass es keinen Sinn hatte. Kérvens unerbittlicher Stolz forderte dieses Opfer. Er ließ ihn gehen und blieb nachdenklich beim großen Ratstisch stehen. Er starrte auf die langsam trocknende Blutlache zu seinen Füßen. Es war wohl an der Zeit, die Meinung der Dame de Cesson in dieser Angelegenheit zu erforschen.
Ihr Verhalten vor dem Rat half ihm nicht weiter. Dass sie es sorgsam vermieden hatte, Kérven des Iles anzusehen, konnte viele Gründe haben. Scham, Hass, Sorge, Zorn – wie sollte er den richtigen herausfinden?
21. Kapitel
Nein!«
Graciana zuckte zusammen, als sie den Seigneur erkannte, mit dem sie beim Bankett des Herzogs den Teller teilen sollte. Sie saß bereits auf ihrem Platz und hatte ihre Augen suchend durch den festlich geschmückten Saal gleiten lassen. Sie hatte den Ritter nicht entdeckt, aber nun hörte sie seine Stimme neben ihr.
Kérven des
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