Graciana - Das Rätsel der Perle
dem Herzog im Reigen, als Kérven den Saal verließ, und prompt kam sie aus dem Takt. Mit hochrotem Kopf murmelte sie eine Entschuldigung, aber ihr Lächeln wirkte gekünstelt, und ihre Stimme bebte.
Jean de Montfort hatte ein Einsehen mit ihr. Er führte sie aus dem Kreis und reichte ihr seinen Arm.
Doch wenn Graciana gedacht hatte, dass er sie dem nächsten Tänzer überlassen würde, so fand sie sich getäuscht.
Sie sah die versteckte Tür erst, als der Herzog den Vorhang zurückschlug und sie einzutreten bat. Es handelte sich um ein behagliches Kabinett, in dem ein wärmendes Feuer brannte. Vor dem Kamin stand eine gepolsterte Bank, und auf einem silbernen Tisch lagen Urkunden und Folianten. Kein Zweifel, dass es sich um eine private Oase des Herzogs handelte.
»Nehmt auf ein Wort Platz, Dame Graciana«, bat Jean de Montfort und wählte aus den Papieren auf dem Tisch eine versiegelte Rolle, welche er in der Hand behielt. »Es ist an der Zeit, dass wir über die Dinge sprechen, die vor dem Rat besser nicht erwähnt werden sollten. Als erstes: Was wisst Ihr über das Kreuz von Ys?!«
Die junge Frau zuckte zusammen und starrte ihn aus großen, erschreckten Augen an.
»Woher wisst Ihr ...«, stammelte sie und wusste plötzlich nicht weiter.
Der Herzog griff schweigend in den Almosenbeutel, den er an seinem Gürtel trug. Als er Graciana die ausgestreckte Hand hinhielt, sah sie ihre Perle dort schimmern.
»Woher ...«, begann sie erneut und schimpfte sich eine Törin, weil ihr nichts Vernünftigeres einfiel.
»Nein, keine solchen Fragen«, unterbrach sie der Herzog ernst. »Ihr wisst genau, wer nach Euch diese Perle in seinem Besitz hatte. Er hat sie mir anvertraut, und ich vermute, dass es noch vier andere Edelsteine dieser Größe gibt und dass sie alle gemeinsam in ein Schmuckstück gehören, das von großer Bedeutung für unser Land, für mich ist! Wo ist das Kreuz von Ys?«
Er hatte Graciana mit dieser kleinen Rede Zeit verschafft, sich zu fassen und nachzudenken. Schon lange war sie zu der Ansicht gekommen, dass es nicht zu Mutter Elissas klügsten Entscheidungen gehört hatte, das Kreuz von Ys zu zerstören.
Sie mochte es gut gemeint haben, aber der Versuch, die Herrschaft der Männer auf diese kindische Weise zu brechen, hatte sie das Leben gekostet. Zudem hatte sie den jungen Frauen, denen sie die Kleinodien anvertraut hatte, gewiss keinen Gefallen damit getan.
Im Gegenteil, sie hatte sie alle miteinander in höchste Lebensgefahr gebracht, denn Paskal Cocherel kannte nun fünf Namen! Und so, wie er sie in Lunaudaie gefunden hatte, würde er auch die anderen vier Novizinnen suchen! Sie zweifelte weder an seiner Energie, noch daran, dass er Erfolg haben würde. Sie hatte selbst schmerzhaft erlebt, wie gefahrvoll und schwierig das Entkommen aus Sainte Anne d’Auray gewesen war.
Ihre Gedanken wandten sich dem Herzog zu, den sie als unerwartet großzügigen und gerechten Mann einschätzte. Vermutlich war es das Beste, die Bürde ihres Wissens einfach an ihn weiterzureichen. Vielleicht konnte er die anderen vier Novizinnen sogar schützen. Sie hob den Kopf und sah ihn offen an.
»Wo das Kreuz heute ist, vermag ich nicht zu sagen«, erklärte sie mit einem tiefen Seufzer. »Bis zu jenem verhängnisvollen Tag befand es sich offensichtlich in Sainte Anne d’Auray. Ein streng gehütetes Geheimnis, das von der jeweiligen Äbtissin des Klosters an die nächste weitergegeben wurde. Mutter Elissa befürchtete, dass es nun doch ans Licht kommen würde, und sie brach die Steine aus dem Kreuz, weil sie seine Macht zerstören wollte. Sie war verbittert und von tiefem Zorn auf alle mächtigen Männer erfüllt. Sie sagte, keiner von ihnen verdiene das Kreuz von Ys!«
Graciana schwieg, aber der Herzog machte nicht den Fehler, sie zum Weiterreden zu drängen. Er ahnte, dass sie von allein erzählen würde, sobald es ihr gelang, die schlimmen Erinnerungen unter Kontrolle zu bekommen.
»Wir waren fünf Novizinnen, die den Schleier noch nicht genommen hatten«, fuhr sie leise fort. »Ich kann es nicht mit Gewissheit sagen, aber ich nehme an, dass sie jeder von uns einen dieser Steine gegeben hat! In meinem Falle meinte sie, ich solle damit die Mitgift für ein Nonnenkloster bestreiten. Sie befahl mir, mein künftiges Leben im Gebet für die unglückliche Seele meiner Mutter zu verbringen, aber ...«
Sie brach ab, als ob sie auf einen Vorwurf wartete, der nicht kam. Jean de Montfort hatte keineswegs die Absicht, sie
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