Gralszauber
durch das sie ritten, hing
ein wenig schief in den Angeln. Kaum ein Haus, das unversehrt geblieben wäre. Zahlreiche Dachstühle waren
eingesunken oder ganz zusammengestürzt. Gewaltige Risse zogen sich durch die Mauern der Häuser und etliche
waren mit großen Balken abgestützt, um sie vor dem Zusammenbrechen zu bewahren. Aber sie kamen auch an
Gebäuden vorbei, die nur noch aus mannshohen Trümmer-
und Steinhaufen bestanden. Nach den Zerstörungen, die
die Pikten angerichtet hatten, war Camelot zum zweiten
Mal verwüstet worden und diesmal ungleich schlimmer.
Dulacs Bestürzung wuchs, je mehr sie sich der Burg näherten, denn dort waren die Zerstörungen noch viel deutlicher zu sehen. Ein Teil der Mauer war niedergebrochen.
Dutzende von Handwerkern bewegten sich auf hastig errichteten Gerüsten oder krochen emsig wie Ameisen über
die Trümmer, um die Schäden so gut es ging zu beseitigen, was ihnen aber vermutlich niemals ganz gelingen
würde.
Das Dach des Palas war fort und durch ein Gerippe aus
frisch geschlagenen Balken ersetzt worden und das obere
Drittel des Turmes existierte einfach nicht mehr. Dulac
versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen sein musste,
als der Turm zusammenbrach, aber seine Fantasie kapitulierte vor dieser Aufgabe. Es musste buchstäblich Steine
geregnet haben.
»Wie viele …«, murmelte er, schluckte den bitteren
Kloß hinunter, der plötzlich in seiner Kehle saß, und begann noch einmal: »Wie viele Menschen sind ums Leben
gekommen?«
Gwinneth deutete ein Kopfschütteln an. »Keine.«
»Niemand?«, vergewisserte sich Dulac ungläubig.
»Es ist ein Wunder, ich weiß«, antwortete Gwinneth.
»Als es geschah, da dachte ich, wir alle müssten sterben.
Es gab viele Verletzte, sehr viele, aber nicht einen einzigen Toten in der Burg und auch nicht in der Stadt.«
»Ihr wart dabei?«, fragte Dulac erschrocken. Erst dann
begriff er, was für eine dumme Frage das war.
»Es war furchtbar.« In Gwinneths Stimme war ein
Klang, der Dulac verriet, dass schon die bloße Erinnerung
an das furchtbare Geschehen ausreichte, um den Schrekken wieder wachzurufen. »Die Erde hat gebebt wie … wie
ein sterbendes Tier. Dreimal.«
Dulac brachte sein Pferd abermals mit einem harten
Ruck am Zügel zum Stehen und starrte sie aus aufgerissenen Augen an. »Drei…mal?«, keuchte er.
Gwinneth nickte. »Der erste Erdstoß war nicht einmal
sehr schlimm«, sagte sie. »Gerade stark genug, um ein
paar Möbel umzuwerfen und alle aufzuwecken.«
»Aufzuwecken?« Dulacs Herz begann schneller zu
schlagen. »Es war … kurz vor Sonnenaufgang?«
Gwinneth runzelte die Stirn. »Bei Anbruch der Dämmerung«, bestätigte sie. »Woher weißt du das?«
»Du hast von aufwecken gesprochen«, antwortete Dulac
mit belegter Stimme. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Es durfte nicht sein. Nicht das! Bitte! Wenn es einen
Gott gab, dann durfte es nicht so gewesen sein! »Und es
waren … drei Erdstöße? Gewiss drei?«
»Der letzte war der schlimmste«, sagte Gwinneth. »Ich
dachte schon, es wäre vorbei, aber dann …« Die Erinnerung an das Schreckliche verdüsterte ihren Blick. »Der
große Turm ist … ist regelrecht explodiert! Die Trümmer
sind bis zur Stadtmauer geflogen. Es war, als hätte ein
Riese mit einem unsichtbaren Hammer auf die Burg geschlagen!«
Oder ein Dummkopf mit einem Schwert, dachte Dulac.
Er fühlte sich wie betäubt. In ihm war ein kaltes, unendlich tiefes Entsetzen.
Langsam löste er die rechte Hand vom Zügel und hob
sie vor die Augen. Sie zitterte immer heftiger. Er konnte es
nicht unterdrücken. Die Kälte in ihm wurde schlimmer. Es
war diese Hand, die das Schwert geführt hatte. Er, er ganz
allein, war für diese entsetzlichen Verwüstungen verantwortlich! Und hätte Morgaine ihn nicht aufgehalten …
Nein, er wagte es nicht, diesen Gedanken auch nur zu
Ende zu denken.
Er ließ die Hand wieder sinken und ritt weiter. Gwinneth
sah ihn nachdenklich an, sagte aber nichts, sondern ritt
schweigend neben ihm her.
So schlimm der Weg zur Burg auch war, gab es doch einen Lichtblick. Zahlreiche Menschen, an denen sie vorbeikamen, blieben stehen oder unterbrachen ihre Tätigkeit,
um Gwinneth zuzuwinken oder ihr ein Lächeln zu schenken.
Sie war offensichtlich sehr beliebt unter den Einwohnern
Camelots. Sie würde eine Königin werden, die von ihrem
Volk geliebt wurde. So wie Artus einmal ein König gewesen war, den das Volk liebte.
Endlich erreichten sie Camelot. Der Hof war
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