Gran Reserva
Kopien seiner Fotos.
Erst als er nun allein durch die Bodega ging, begriff Max die Ausmaße dieser Kellerei, erst jetzt ihre vielen Gänge, ihre unzähligen Tanks und Fässer. Eine Stadt aus Wein, so kam es ihm vor, und ihre flüssigen Bewohner reisten in die ganze Welt. Es gab unzählige Motive für ihn. Vor allem die Geometrie der gestapelten Fässer hatte einen besonderen Reiz. Wie sich die Rundungen übereinanderlegten, addierten, zum Himmel zu steigen schienen. Max schoss unzählige Fotos, doch immer hielt er mit einem Auge Ausschau nach Arbeitern. Und wenn er einen sah, fotografierte er ihn. Die meisten waren relativ maulfaul, und auf Nachfragen zu Cristina erntete er zumeist nur zustimmendes Brummeln, obwohl die Spanier sonst ein ungemein zuvorkommendes und hilfreiches Volk waren.
Er schoss gerade Bilder der Bodega-eigenen Grillhütte, als eine junge Frau mit Handy am Ohr an ihm vorbeihuschte. Sie war ungefähr in Cristinas Alter, trug ein modisches, lavendelfarbenes Kostüm mit kurzem Rock und perfekt darauf abgestimmten, hochhackigen Schuhen. So modisch arbeitete niemand im Keller, wie Cristina hatte sie mit Sicherheit einen Schreibtisch in der Verwaltung.
Er lief zu ihr. »Hola!«
Sie beendete ihr Gespräch und lächelte ihn an. »Hola, Sie müssen der Fotograf aus Deutschland sein. Wir sind alle sehr gespannt auf Ihre Bilder.« Sie reichte ihm die Hand und lächelte. Max kannte dieses Lächeln. Es passte perfekt zu ihrem Gesicht, war nicht zu angestrengt, nicht zu lässig, entblößte genau das richtige Maß an Zähnen – und war durch und durch falsch.
»Dürfte ich Sie kurz vor dieser Hütte fotografieren? Eine so schöne Frau wie Sie, mit solchen Beinen, sorgt für die nötige Eleganz.«
Auch dieser Satz war falsch, aber Max hatte Übung darin und brachte ihn überzeugend dar. Sie hieß Ines Sastre und arbeitete in der Exportabteilung. Deutschland kannte sie von der Messe ProWein – weswegen sie nun von der Düsseldorfer Altstadt schwärmte, was einem gebürtigen Kölner wie Max in der Seele wehtat. Es war schlimm genug, dass er dort studiert hatte. Anmerken ließ er sich das alles natürlich nicht. Stattdessen fotografierte er, was das Zeug hielt. »Das Kinn etwas höher, Blick zu mir, lächeln, perfekt, Sie machen das wie ein Profi! Die Hüfte leicht eindrehen. Hervorragend, ganz natürlich bleiben. Einfach super!«
Sie war grauenvoll.
Die Figuren in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett wirkten lebendiger.
»Ich hab ja schon eine Frau hier bei Faustino fotografiert, Cristina hieß sie. Aber sie hat es bei Weitem nicht so gut gemacht wie Sie. Kennen Sie diese Kollegin?«
»Ja«, antwortete das Teilzeitmodel. »Sie steht gerade hinter Ihnen.«
Da stand sie tatsächlich, die Arme vor dem Brustkorb verschränkt. Die Oberlippe vorgezogen. Die Augen funkelnd. Und eines war ihr Gesichtsausdruck auf jeden Fall: authentisch. Aber leider auch stinkwütend.
Cristina drehte sich um und ging. Max lief hinterher.
»Ich dachte, du bist krank?«
Ihr Schritt wurde schneller.
»Bin ja froh, dass du es nicht bist! Wir müssen reden.«
Noch schneller.
»Die Polizei hat mich verhört.«
Sie blieb stehen. Ihre Schultern zuckten nervös. Dann drehte Cristina sich um, die Lippen aufeinandergepresst. Mit dem Kopf deutete sie auf das Nebengebäude, in dem die Txoko untergebracht war, die traditionelle Probierstube. Der Raum mit niedriger Decke und Holzbalken war über und über behängt mit Fotos und Urkunden. Rasch schloss Cristina die Tür hinter Max und verriegelte sie.
»Die Polizei hat dich verhört? Sag es doch noch lauter! Oder spray es am besten gleich an die Wand der Bodega!« Sie trommelte wütend mit den Fäusten auf den langen, polierten Holztisch.
»Ganz ruhig, Cristina!«
»Also: Wieso hat die Polizei dich befragt? Was hast du erzählt? Wieso redest du überhaupt mit denen? Hast du ihnen etwa meinen Namen genannt? Bist du völlig verrückt? Warum bist du überhaupt noch hier? Wolltest du nicht zurück nach Deutschland?«
Max atmete kurz durch, bevor er antwortete. »Nein. Weil ich mich nach unserem Toten erkundigt habe. Nichts. Ich konnte nicht anders. Nein. Nein. Warum nicht? Nein.«
»Was?«
Er erklärte es ihr in Häppchen. Und bevor er es wieder vergaß, bat er sie um ihre Handynummer. Sie war so überrumpelt, dass sie sie ihm gab.
Mit unentwegtem Kopfschütteln sprach sie weiter. »Der Tote geht uns nichts an. Überhaupt nichts! Gar nichts! Ich will das alles nur schnell vergessen,
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