Gran Reserva
die Leiche ans Ufer schwemmen würde und fuhr dieses nun ab – ausgehend vom Ort, wo sie den Toten ins Wasser geworfen hatten. Vom Wagen aus rief er mit seinem eben in der Innenstadt erworbenen Handy der neuesten Generation bei Faustino an, um nach Cristina zu fragen. Doch sie hatte sich krankgemeldet, und ihre Privatnummer wollte man ihm nicht geben. Ihr Nachname war Lopez. Davon gab es in der Rioja so viele wie Rebstöcke. Den Blick ins Telefonbuch konnte er sich also sparen.
Die Leiche war nirgends zu sehen. Vielleicht war sie auf den Grund des Ebro gesunken oder hatte sich uneinsehbar an einem der tief in den Fluss hineinragenden Äste verhakt. Obwohl dies gut gewesen wäre und sogar noch besser, wenn Fische die Leiche auffraßen, konnte Max beim Blick auf das dunkle Blau des Ebro nicht verdrängen, dass er hoffte, der alte Mann würde gefunden werden, damit seine Familie Klarheit hatte.
Doch der Ebro gab sie nicht wieder her, wie so vieles, was er mit der Zeit in seinen feuchten Magen bekommen hatte. Sein Autoradio spielte McGuinessʼ und Flints »When Iʼm Dead and Gone«, gefolgt von Marilyn Monroes »River of no Return«. Hatte er aus Versehen die Taste für schwarzen Humor gedrückt?
In Logroño parkte Max seinen Wagen am Stadtrand und ging von hier aus zu Fuß den Fluss entlang. Grün wucherte zu beiden Seiten des Ebro, umschloss ihn fürsorglich. Die Stadt liebte und lebte Wein, Max bildete sich ein, seinen Duft sogar jetzt riechen zu können. Juan hatte ihm berichtet, dass der Bürgermeister von Logroño im Jahr 1635 sogar den Verkehr von Fuhrwerken auf den Zufahrtsstraßen der Bodegas untersagt hatte, um Vibrationen zu vermeiden.
Das passte.
Über die Puente de Piedra wollte Max auf die andere Seite des Ufers gelangen. Doch nach wenigen Metern blieb er abrupt stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Auf der kleinen grünen Ebro-Insel die im Besitz des Museo Riojane de Arte war, befand sich eine Gruppe Menschen. Uniformierte. Weißgekleidete. Dazu Absperrbänder. Und die aus der Plastikfolie befreite Leiche.
Erst jetzt bemerkte Max, dass viele Menschen auf der Puente de Piedra standen und in Richtung Insel schauten.
Max musste hin. Wie Motten zum Licht zog es ihn zur Insel.
Es war schwierig, ein Boot zu finden, das ihn hinüberbrachte. Schließlich kaufte er im El Corte Inglés ein aufblasbares Paddelboot. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er es endlich mit Luft gefüllt hatte. Egal.
Er wäre sogar geschwommen.
Nach nur wenigen Ruderzügen legte er auf der kleinen, bewaldeten Insel an, sprang ans Ufer und ging sofort Richtung Westspitze, wo die Leiche angeschwemmt worden war.
Die Polizei bemerkte ihn sofort. Gleich mehrere Uniformierte eilten auf ihn zu, die Arme erhoben, ihn wegscheuchend wie Geflügel. Auch Max hob einen Arm – und in der Hand hielt er seine Eintrittskarte. Den Presseausweis. Er erneuerte ihn trotz der Kosten jedes Jahr. Unter anderem weil man damit beim Autokauf Rabatt erhielt.
Und nach einigen frei erfundenen Erklärungen auch den Zu„gang zum Fundort der Leiche. Allerdings musste er einen gewissen Abstand einhalten.
Doch er hatte seine leistungsstarke Spiegelreflex mit 35-fachem Zoom dabei. Und sein gutes Gehör.
Sie sprachen leise miteinander, doch der Wind trug ihre Worte zu ihm.
»Sein Name ist Alejandro Escovedo aus Gipuzkoa«, sagte ein Uniformierter.
Ein anderer Polizist schnappte nach Luft. »Tiefstes Baskenland.«
»Siebenundachtzig Jahre alt, verheiratet, drei Kinder, keine Vorstrafen. Wanderte gerade den Jakobsweg, hat die vorletzte Nacht in der Gemeindeherberge ›Albergue de Peregrinos‹, einem Pilgerquartier hier in Logroño, verbracht. Mehr haben wir noch nicht. Außer dass er nach Aussage des Herbergsvaters ein Jakobsweg-Abzeichen getragen hat, das sich nicht mehr an der Leiche befindet.«
Ein Mann auf Sinnsuche, dachte Max. Ein Bruder im Geiste.
Doch noch etwas fiel ihm ein. Der Jakobsweg verlief nicht an den Bodegas Faustino vorbei.
Sie verwiesen ihn der Insel. Anscheinend hatte ein Vorgesetzter beschlossen, dass deutsche Journalisten doch nicht erwünscht waren. Beim Zurückrudern fühlte Max sich, als hätte er den Mann umgebracht, als sei diese Leiche seine Verantwortung. Und Cristinas. Als wären sie durch diesen Toten verbunden – und würden dem Abgrund entgegentreiben. Wie hatten sie nur glauben können, die Polizei übers Ohr zu hauen? Sie würden etwas finden, DNA-Spuren, Flecken von Faustino-Wein, Bodenbrösel,
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