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Gran Reserva

Gran Reserva

Titel: Gran Reserva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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aber er hat großen Eindruck bei mir hinterlassen. Deshalb wollte ich Ihnen mein herzliches Beileid zu seinem Tod aussprechen.«
    Und das wollte er wirklich. Die Schuld stieg wieder in ihm empor wie beißende Galle. Wie unverantwortlich er mit der Leiche dieses armen Mannes verfahren war.
    Maria Escovedo umarmte ihn, Tränen in den Augen. Ihr Schluchzen war leise, sie versuchte es zu unterdrücken, doch eine Flut ließ sich nicht eindämmen, sie riss nur alles nieder, was man ihr in den Weg stellte.
    »Er wollte gar nicht den ganzen Weg gehen, nicht bis Santiago de Compostela. Aber er hat mir auch nicht gesagt, bis wohin er wollte. So war er, ein guter Mann, aber immer für sich, hat nicht viel geredet, aber ein guter Mann, so ein guter Mann.« Die alte Frau wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. »Nach Yuso wollte er vorher noch, um sich Rat zu holen, hat er gesagt. Der Polizei habe ich nichts davon erzählt, die sollen nicht nach Yuso, das ist ein heiliger Ort, den sollen sie nicht mit ihren Fragen stören. Fragen, immer wieder Fragen, nie hören sie auf damit.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollen Fragen mir meinen Mann zurückbringen? Bei Gott ist er jetzt, und er soll Ruhe finden. Keine Zeitungen mehr, keine Polizisten, keine Fragen. Nur Ruhe. Das hätte er sich gewünscht. Er war immer für Ruhe.«
    Max zog die Kette aus seiner Tasche. »Die hat er mir geschenkt, aber ich glaube, sie ist bei Ihnen besser aufgehoben.«
    Ihr Blick veränderte sich. Plötzlich stand Fassungslosigkeit in ihren Augen, dann loderte ein wütendes Feuer darin auf. Mit einem Mal brüllte sie los.
    »Sie Lügner! Sie Lügner! Sie sind ein Lügner! Das ist die Kette seiner Mutter, die hätte er nie verschenkt, nie, nie, nie! Niemandem, erst recht nicht einem, den er erst kurz kennt. Sie haben sie ihm gestohlen! Sie Dieb!« Sie hielt inne. »Sie Mörder! Sie waren es! Und nun wollen Sie mich auch noch umbringen! Mörder! Mörder!«
    Erschrocken rannte Max davon, rannte zu seinem Jeep, drehte mit zitternden Fingern den Zündschlüssel um und fuhr mit quietschenden Reifen Richtung Ortsausgang los. Escovedos Witwe und die anderen Frauen, die eben noch gemütlich Pimientos geröstet hatten, liefen seinem Wagen laut schimpfend und mit wütend erhobenen Fäusten hinterher. Fensterläden wurden aufgestoßen, und neugierige Gesichter blickten ihm von allen Seiten nach.
    Erst als er Ormaiztegi weit hinter sich gelassen hatte, fiel Max auf, dass er die Kette mit dem Kreuz immer noch in der Hand hielt, ganz fest. Der Abdruck des christlichen Symbols hatte sich in seinen Handballen gedrückt und dort ein rotes Kreuz hinterlassen.
    Auf halber Strecke fuhr Max an den Straßenrand und rief Felipe Jacinto, seinen spanischen Anwalt, an, um ihm alles, aber wirklich alles, zu erzählen. Einen anderen Ausweg sah er nicht mehr. Nachdem Max sich die ganze Geschichte von der Seele geredet hatte, war es lange Zeit still in der Leitung. Als der Mann mit dem Dalí-Bart wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme so dünn und zerbrechlich, als wären die Stimmbänder überdehnt, als drohten sie gleich zu reißen. »Ich werde die Polizei von dem Vorfall unterrichten. Sofort. Bevor es jemand anders tut. Wir sagen, du hättest die Kette an dem Platz gefunden, wo die Leiche angespült wurde, und sie eingesteckt, ohne dir viel dabei zu denken. Erst später sei dir klar geworden, dass sie dem Toten gehören könnte. Das ist sehr fadenscheinig, aber du hast ein mögliches Beweismittel unterschlagen, Max. Für jemanden, der unter Tatverdacht steht, ganz schlecht. Da müssen wir es eben mit einer Lüge versuchen, selbst wenn sie so mickrig ist, etwas Besseres fällt mir einfach nicht ein. Das war überhaupt keine gute Idee. Nein. Es war vielleicht die schlechteste Idee deines Lebens.«
    Max brauchte viel Zeit, bis er es schaffte, den Jeep wieder zu starten.
    Und sieben Zigaretten.
    Er fuhr sehr langsam auf der rechten Spur, immer wieder rang er nach Luft, weil er zuvor vergessen hatte einzuatmen. Schließlich hielt er an einer Albergue de Carretera, einem Rasthof. Max aß nichts, er schüttete nur brühend heißen Kaffee in sich hinein. Einen nach dem anderen. Ohne Milch. Ohne Zucker.
    Irgendwann zog er aus lauter Verzweiflung eine Karte seiner Sekundenmeditationen: »Heute mache ich zehn Minuten nur, was mich erfreut.«
    Er verschwand auf der Toilette und übergab sich. Eine halbe Stunde später trat er bleich wieder heraus, trank Wasser und aß

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