Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gran Reserva

Gran Reserva

Titel: Gran Reserva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
Vom Netzwerk:
Angelegenheit sollte ihm eigentlich auf den Magen schlagen, tat sie aber nicht.
    Moment. Tat sie plötzlich doch. Mit aller Wucht übergab er sich in die Kloschüssel.
    Das Warten wurde ihm in den nächsten Stunden zur Qual. Worauf wartete er überhaupt? Das nicht zu wissen, machte es noch schlimmer. Auf das nächste Verhör? Auf das Fallen des Beils? Auf einen Geistesblitz seines Anwalts? Irgendwann kam ein Gefangener mit einem Wagen der Anstaltsbücherei vorbei, und Max wählte das einzige deutschsprachige Werk, Hermann Hesses »Demian«. Es war nicht die schlechteste Wahl. Beileibe nicht. Manche Bücher waren Liebeserklärungen. Ohne dass es die meisten merkten. Vielleicht sogar nur die Person, der diese Liebe galt. Andere Bücher waren freigiebiger mit ihrer Liebe, sie strahlte aus den weißen Seiten wie Gold. Hesse war freigiebig mit seiner Liebe. Und Max merkte, wie er sich selbst und seine Gefühle für Cristina in dem Buch wiederfand. Das erschien ihm wie ein Wunder. Wie auch seine Begegnung mit Cristina.
    Mit einem Mal wurde die Tür geöffnet. Ein junger Uniformierter beäugte ihn streng, die Augen zu Schlitzen verengt, wie Schießscharten.
    »Sie können gehen.«
    Max fragte sich, ob sein Spanisch vielleicht bedeutend schlechter war als gedacht. Hatte der Mann gerade gesagt, dass er gehen dürfe?
    »Ich darf gehen?«
    »Sie dürfen gehen. Sofort. Auf!«
    »Ich darf…?«
    »Muss ich Sie erst hinausprügeln?« Er zog tatsächlich seinen Schlagstock.
    Es war klar, dass dieser Mann ihn nicht gehen lassen wollte, sondern musste. Wieso um alles in der Welt?
    »Warum darf ich gehen?«
    »Ich bin nicht das Auskunftsbüro. Beeilen Sie sich. Ich hab noch anderes zu tun.«
    Sie gaben Max seine Habseligkeiten zurück, und kurze Zeit später stand er auf der ausgestorbenen Straße vor dem Untersuchungsgefängnis. Er holte sein Handy hervor, dessen Akku zum Glück noch genug Saft hatte, dass er Felipe Jacinto anrufen konnte.
    »Sie sind ein Genie, wissen Sie das!«
    »Nein, wirklich, das ist zu viel der Ehre. Verstehen Sie, in Wirklichkeit war es…«
    »Sie müssen mir sagen, wie Sie das geschafft haben! Bin ich frei, also für immer, die buchten mich nicht mehr ein?«
    »Nein, das werden sie nicht.«
    »Das ist der Wahnsinn! Der absolute Wahnsinn. Darf ich das Land verlassen?«
    »Sie dürfen gehen, wohin Sie wollen. Wollen Sie denn?«
    Max dachte darüber nach. Wollte er zurück nach Deutschland? In der Zelle hatte er nichts als raus gewollt. Aber nicht nach Deutschland.
    »Nein.«
    »Gut. Denn das wäre ein Fehler. Wenn Sie mich jetzt ausreden lassen, erzähle ich Ihnen auch, warum Sie frei sind.«
    »Ja, klar, immer doch. Legen Sie…«
    Doch dann fiel sein Blick auf einen einzelnen Wagen, der am Straßenrand stand. Er sah eine Frau aussteigen und erkannte sie sofort. Max ließ das Handy sinken.
    Cristina hatte ein dunkles, knielanges Kleid an, das den Eindruck erwecken konnte, sie trage Trauer.
    »Du? Was machst du hier?«, rief er ihr entgegen.
    »Freust du dich nicht, mich zu sehen?«
    »Woher wusstest du, dass ich heute rauskomme? Mein Anwalt hat es dir gesagt, oder? Der Kerl ist super.«
    Sie sah ihn fragend an. Und ungeduldig.
    »Ich freu mich sehr, dich zu sehen, Cristina. Wolltest du mich besuchen kommen und wusstest gar nicht, dass ich freigelassen werde? Hab gerade meinen Anwalt am Telefon, der mir erklären will, wie er es geschafft hat. Warte bitte eine Sekunde – Hallo? Da bin ich wieder. Sie glauben ja nicht, wer mir gerade gegenübersteht.«
    »Cristina«, antwortete Felipe Jacinto ohne zu zögern. »Sie hat der Polizei gesagt, dass Sie in der Todesnacht von Alejandro Escovedo mit ihr zusammen waren. Sie hat Ihnen ein Alibi geliefert. Verstehen Sie, was das bedeutet? Für Cristina? Die Rioja ist erzkatholisch. Cristina stammt aus einer Familie, die tief hier verwurzelt ist. Wenn es rauskommt, dass sie mit Ihnen, einem Mordverdächtigen…wissen Sie, was ich meine? Max?«
    Doch Max hatte das Handy sinken lassen und umarmte Cristina. Ganz lange und ganz fest.
    Im Wagen schwiegen sie sich eine Ewigkeit lang an. Max wusste nicht, welche Worte die richtigen waren. Oder zumindest nicht die falschen. Die Rioja zog an ihnen vorbei, unzählige Reben von unzähligen Weinstöcken auf kargem Boden, das Rot und Gold ihrer Trauben wie vereinzelte Farbkleckse eines sparsamen Malers. Viele Rebstöcke wuchsen noch traditionell wie Büsche, nahe am Boden. Max wusste, dass die Franzosen das Gobelet nannten, En Vaso

Weitere Kostenlose Bücher