Gran Reserva
kennen? Bei manchen reichen wenige Augenblicke, und man weiß alles, andere kennt man ein Leben lang, und sie überraschen einen doch noch. Max, lass sie gehen. Ihr seid nicht aus derselben Welt.«
Max sah sich um, nahm das verwaschene Gelb der Häuserfassaden wahr, den kristallblauen Himmel, die trockene Hitze, die entspannte Stille, nichts davon existierte in Köln, nichts davon in seiner Welt. Hier aßen die Menschen nicht nur anderes, sondern auch zu anderer Zeit. Sie schliefen nachmittags, und nachts waren sie wach. Und das waren nur die Unterschiede an der Oberfläche. Fernando hatte zweifellos recht.
Und doch… Diese Welt hier, Cristinas Welt, brachte etwas in ihm zum Schwingen. Etwas, das schon seit vielen Jahren schwingen wollte.
»Ich will in ihre Welt, ich will sie nicht aus dieser reißen. Cristina gehört hierher. Aber ich, ich gehöre nicht in meine. Ich weiß nicht, ob ich hierher gehöre, wirklich nicht, aber ich würde es gerne versuchen. Schauen, ob ich passe, ob dies das Puzzle ist, in das mein Stück Leben passt.« Er schaute sich die Fotos auf seinem Kamera-Display an. Auf keinem war Cristina zu sehen, und doch sah er sie auf jedem. »Liebe ist ein großes Wort, nicht wahr? Ich traue mich noch nicht, es in den Mund zu nehmen. Es ist zu wertvoll dafür. Wie das Sonntagssilberbesteck. Würde man es jeden Tag benutzen, wäre es nicht mehr so wertvoll. Aber ich spüre, dass es bald Zeit ist, das Silberbesteck aus seinem Kasten zu holen. Und sollte man nicht alle Gelegenheiten, die es wert sind, nutzen, um es herauszuholen? Es gibt eh viel zu wenige davon im Leben.«
Fernando sah ihn erstmals mit großen Augen an. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, Max. Aber Hauptsache, du weißt es.«
»Ja, ich weiß es. Jetzt weiß ich es.« Dann sprach er leise weiter, mehr zu sich selbst, doch Fernando hörte es. »Ich liebe Cristina. Keine Ahnung, wieso. Und egal, was Sie sagen, ich werde sie nicht gehen lassen. Denn ich glaube, nein, ich weiß, dass sie nicht gehen will.«
»Was weißt du?«, bellte eine andere Stimme. »Meintest du, ich finde dich nicht, du Hund?«
Eine Hand griff nach Maxʼ Kragen, zog ihn fort. Es fühlte sich an, als habe sich ein Abschleppwagen bei ihm eingehakt. Er wurde über die Straße geschleift, schaffte es ab und an, die Füße auf den Boden zu bekommen, einige Schritte zu stolpern, bevor der Zug wieder zu stark wurde und ihm die Beine wegzog.
Es kam alles viel zu überraschend.
Auch der erste Schlag in seine Magengrube.
Nur aus den Augenwinkeln erkannte Max, dass er in einen Hinterhof gezerrt wurde, der über und über mit Müllcontainern vollgestellt war, die in der Hitze ihre stinkenden Ausdünstungen verbreiteten.
Der zweite Schlag traf ihn in die Nieren und raubte ihm die Luft.
Max krümmte sich am Boden zusammen. Dann trat Carlos zu. Er trug Stiefel mit Stahlkappen, und der rechte grub sich tief in Maxʼ Brust. Einmal, zweimal, dreimal. Jeder Tritt mit mehr Wucht als der zuvor. Max schrie nicht. Diese Genugtuung würde er Carlos nicht geben. Doch der Schmerz wurde immer reißender. Er versuchte aufzustehen, doch kaum hatte er sich abgestützt, traf ihn der nächste Tritt in den Unterleib, und er sackte wieder zusammen.
Ihm blieb nur, seinen Kopf zu schützen. Und zu hoffen, dass Carlos bald die Kraft verließ. Doch Max dachte gar nichts, er spürte nur den Schmerz, der grell in zu viele Stellen seines Körpers drang. Die Welt verlor an Farbe, es wurde immer schwerer, Luft in die Lungen zu atmen. Die auf ihn donnernden Tritte und Schläge wurden zu einem einzigen. Sein Bewusstsein franste an den Ecken aus…
»Carlos!«
Die Tritte und Schläge stoppten.
Die Luft kehrte stückweise zurück.
»Señor Colón?«
»Carlos, was tust du da? Wo ist dein Benehmen? Du bist Spanier. Aus La Rioja! Wir sind stolz auf unsere Gastfreundschaft. Stolz, Carlos! Wir sind höflich gegenüber Gästen, auch wenn es uns manchmal schwerfällt!«
Max öffnete die Augen. Da stand der alte, schrumpelige Fernando, seinen Gehstock drohend erhoben.
Er erinnerte ihn ein wenig an Meister Yoda aus Star Wars. Was auch am grünlichen Licht der moosüberwachsenen Hofbeleuchtung liegen konnte.
»Aber er hat…«
» Ich rede jetzt, Carlos. Dann hast du ruhig zu sein!« Fernando wartete, ob Carlos etwas sagen würde. Sein Mund öffnete sich, doch dann schloss er sich wieder, ohne dass ein Wort herausgekommen war. »Gut. Dieser Mann da hat sich in eine Frau aus unserer Heimat verliebt.
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